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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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er sich nicht geschämt hat, das zu tun, dann ist ihm Scham überhaupt fremd. Manche
     Menschen werden mit einem körperlichen Schaden geboren, und Gewissenlosigkeit ist auch eine Art angeborener Schaden. Das läßt
     sich nicht kurieren.
    Bei jenem lange zurückliegenden Streit um den diebischen Aspiranten hatte sie das Wichtigste nicht begriffen: wer von beiden
     recht hatte. Wenn Mama redete, fand Sonja, daß sie recht hatte. Und wenn Papa ihr widersprach, gab sie innerlich ihm recht.
     Beide waren sehr überzeugend.
    Sonja kam äußerlich nach ihrer Mama, vom Charakter her eher nach Papa. Von frühester Kindheit an zeigte sie Papas Zurückhaltung
     und Verschlossenheit. Sie war nie ein Plappermaul gewesen, tat sich schwer mit Gleichaltrigen. In alltäglichen Dingen war
     sie beinahe genauso zerstreut und vergeßlich wie ihr Vater, und sie spürte ebenso sicher wie er den leisesten Anflug von Falschheit
     bei Menschen. Dieses Gefühl verblüffte ihre Eltern, ja erschreckte sie mitunter.
    Als sie vier Jahre alt war, brachte ein Bekannter einmal einen berühmten Filmregisseur mit zu ihnen. Der Regisseur flirtete
     eifrig mit dem hübschen, schwarzäugigen Kind. »Ein richtiges Wrubelgesicht, die Zartheit des Jugendstils …«, sagte er. Als
     er ging, erklärte er, er wolle mit Sonja Filmaufnahmen machen. Jede andere Vierjährige wäre begeistert gewesen. Doch Sonja
     reagierte mürrisch und verschlossen.
    Der Regisseur hielt sein Versprechen, nach einem Anruf vom Filmstudio kam ein Kleinbus von Mosfilm Sonja abholen.
    »Ich will nicht«, erklärte Sonja der netten jungen Regieassistentin, als diese in die Wohnung kam. »Ich fahre nicht mit!«
    »Aber warum denn nicht?« fragten erstaunt die Eltern und das Mädchen. »In einem Film mitspielen, das ist doch spannend!«
    »Er gefällt mir nicht, dieser Mann …«
    »Warum?«
    »Er hat einen Plastikkopf! Er ist ein richtiger Plastikmensch, alles unecht«, erklärte das Mädchen.
    Der Regisseur benahm sich in der Tat gekünstelt und manieriert. Er war stets auf seine Wirkung bedacht. Die Erwachsenen tolerierten
     das gelassen, viele bemerkten es nicht einmal.
    Mit acht erkannte Sonja allmählich, daß Falschheit auch harmlos sein konnte – manchmal wollte jemand einfach nur gefallen
     und versuchte darum, besser zu erscheinen.
    »Manchen Menschen ist es sehr wichtig, was für einen Eindruck sie auf andere machen«, erklärte ihr Papa, »sie denken dauernd
     daran, und das wirkt von außen manchmal komisch. Aber darüber darf man nicht lachen, nicht einmal innerlich, solche Menschen
     muß man bedauern, sie haben es sehr schwer …«
    Sonja verstand, was Papa meinte, und lernte, fremde Schwächen zu tolerieren.
    Fjodor war ihr von Anfang an durch und durch falsch vorgekommen. Aber sie wußte: Man durfte über solche Menschen nicht lachen.
     Die Sache war schließlich sonnenklar. Er war bis über beide Ohren verliebt in Vera, deshalb riß er sich so ein Bein aus. Er
     bemühte sich, seine Primitivität zu verbergen, seine innere Härte und seine Kriminellenallüren. Die roch Sonja nämlich dank
     ihrer Erfahrungen in der Eliteschuledrei Meilen gegen den Wind. Die Eltern ihrer Klassenkameraden waren natürlich keine Mafiosi im üblichen Sinn. Das waren Leute
     in guten, teuren Anzügen, mit normalen, sogar angenehmen Umgangsformen. Aber in ihren Augen glitzerte etwas Beängstigendes,
     Raubtierhaftes, ihre Sprache war durchsetzt mit speziellen Ausdrücken, in ihren Autos dröhnte ganz spezielle Musik. Sonja
     hätte nicht exakt formulieren können, wodurch sich diese Leute so grundlegend von allen anderen unterschieden. Die brutalen
     animalischen Gesetze ihrer Welt verliehen ihren Gesichtern eben eine eigene Prägung. Jedenfalls erkannte Sonja sie stets auf
     Anhieb. Und genau diese Prägung hatte sie vom ersten Tag an bei Fjodor bemerkt.
    Aus den Erwachsenengesprächen, denen Sonja stets aufmerksam folgte, wußte sie, daß Vera seit vielen Jahren Stas Selinski liebte
     und daß er »ihr Leben zerstört«. Sonjas Mama nannte Stas einen Mistkerl, Sonjas Papa sagte, Stas gehöre zur Spezies der klugen
     Dummköpfe. Er spielt so lange mit seinen Barbiepuppen, bis er Vera verliert, und das wird die größte Dummheit seines Lebens
     sein.
    Sonja hatte den berühmten Stas schon oft gesehen. Vielleicht war er ja ein Mistkerl und ein kluger Dummkopf, aber er war normal,
     einer der Ihren. Er stammte aus der derselben Welt wie Mama und Papa, Vera und die Freunde und Bekannten

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