Keiner wird weinen
zugeklappt. Er hörte ein Auto wegfahren.
Vorsichtig, auf Zehenspitzen, lief Stas hinunter, wartete noch ein paar Sekunden und lauschte verstohlen, bis er schließlich
den Schlüssel ins Schloß steckte.
Die Tür war nicht abgeschlossen. Im Flur war es dunkel.
»Marina!« rief er leise.
Niemand antwortete. In der Wohnung herrschte eine eigentümliche, tiefe Stille. Aus der spaltbreit offenen Schlafzimmertür
drang ein schmaler Lichtstreifen.
Vielleicht ist sie eingeschlafen? dachte Stas und schaute vorsichtig ins Schlafzimmer.
Im Zimmer lag alles drunter und drüber. Der Kleiderschrank stand sperrangelweit offen, die Kommodenschubladen waren herausgezogen,
auf dem Fußboden waren bunte Kleidungsstücke verstreut. Marina saß mitten im Zimmer, mit einem breiten grauen Band an einen
Stuhl gefesselt. Ihr Kopf baumelte hilflos im Nacken. Auf ihrem hellblauen chinesischen Seidenkimono schimmerten häßliche
braune Flecke, die Stas sofort als Blut erkannte. Die besondere schlaffe Haltung, die unnatürliche Neigung ihres Kopfes ließen
keinen Zweifel: Marina war tot.
Seine Kehle krampfte sich zusammen. Er konnte von klein auf kein Blut sehen. Er preßte die Hand vor den Mund, denn er spürte,
daß er sich jeden Moment übergeben mußte. Gleich hier, auf den Schlafzimmerteppich, vor der toten Frau … Er rannte aus der
Wohnung, ohne sich umzuschauen, von Krämpfen gewürgt, die Hand auf den Mund gepreßt.
Er wohnte ganz in der Nähe, nur zwei Häuserblocks entfernt. Unterwegs warf er im Laufen mechanisch den Schlüssel, den er noch
immer in der schweißnassen Faust hielt, in einen Müllcontainer.
Als er im Bademantel in seiner Küche saß und darauf wartete, daß das Wasser kochte, verspürte er Schwäche und Schwindel. Er
steckte sich eine Zigarette an, inhalierte einen tiefen Zug und begriff plötzlich, daß die vier Männer, die er auf der Treppe
getroffen hatte, die Einbrecher waren. Sie hatten Marina getötet. In ihren Sporttaschen war verstaut, was sie in der Wohnung
gestohlen hatten. Und der Mann ohne Gepäck war das Oberhaupt der Bande. Er hatte Stas durchdringend angesehen, ihn als potentiellen
Zeugen taxiert und überlegt, ob er ihn gleich an Ort und Stelle umlegen sollte.
Der Gedanke, die Miliz und den Notarzt zu rufen, war ihm weder in Shenjas Wohnung noch später gekommen. Schließlich hätte
man ihn sofort gefragt: Was wollten Sie denn zu so später Stunde dort?
Marina wurde am nächsten Tag gefunden. Eine ihrer Telefonfreundinnen hatte Alarm geschlagen. Sie war mit Marina verabredet,
sie wollten zusammen in die Sauna. Die Freundin sollte Marina um zehn abholen.
Die Tür war noch immer offen. Als das Mädchen die Wohnung betrat, rannte sie im Gegensatz zum sensiblen Stas nicht davon.
Sie versuchte Marinas Puls zu fühlen, dann rief sie den Notarzt und die Miliz an.
Shenja erzählte Stas später unter Tränen, Marina habe noch eine Zeitlang gelebt. Die Einbrecher hatten ihr mehrere Stichwunden
zugefügt, dabei aber nicht das Herz getroffen. Die Ärzte sagten, sie sei verblutet. Wäre sie ein paar Stunden eher gefunden
worden, hätte sie gerettet werden können.
Zur Beerdigung der Frau seines Freundes ging Stas nicht, er erklärte, er sei krank. Er fühlte sich tatsächlich krank und unglücklich.
Er versuchte sich damit zu trösten, daß er in jener Nacht rein zufällig in der Wohnung gewesen war. Und wenn Shenja von den
Abenteuern seiner Frau erfahren hätte, würde ihn das nur zusätzlich verletzt haben. Und überhaupt – die Tote war ein lockeres
Früchtchen gewesen, ein richtiges Flittchen, auch wenn man Toten nichts Schlechtes nachsagen soll.
Er beschränkte seinen Kontakt mit Shenja auf das Allernotwendigste, es fiel ihm schwer, ihm in die Augen zu sehen. Unter einem
fadenscheinigen Vorwand zog er sich sogar aus dem erfolgreichen gemeinsamen Geschäft zurück.
In Moskau kursierten unterdessen Gerüchte über eine brutale Bande von Einbrechern. Aus dem Kriminalreport erfuhr Stas, daß
sie bei einem Einbruch gleich drei Menschen getötet hatten – Großmutter, Grovater und deren zehnjährigen Enkel. Die Opfer
waren mit Klebeband an Stühle gefesselt, genau wie Marina. Na und? Das mußten nicht unbedingt dieselben Männer gewesen sein,
die Stas auf der Treppe gesehen hatte. Schließlich konnte er doch jetzt nichtzur Staatsanwaltschaft gehen und von den vier Männern erzählen! Das wäre Wahnsinn. Besser, er vergaß das Ganze.
Shenja
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