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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Diensthabende holte behutsam das Foto unterm Glas hervor.
    Sonja starrte wie gebannt auf das Foto, las mehrmals den kurzen Text, wobei sie konzentriert die Lippen bewegte, als wolle
     sie ihn auswendig lernen.
    »Vielen Dank.« Sie gab dem Diensthabenden das Foto zurück.
    »Und, hast du ihn erkannt?« fragte der Mann in Zivil lächelnd. »Hast du ihn schon mal irgendwo gesehen?«
    »Das kann ich noch nicht genau sagen«, erwiderte Sonja ernst. »Ich muß nachdenken und ihn mir noch einmal genau anschauen.
     In Wirklichkeit, nicht auf dem Foto.«
    In der Fahndungsabteilung saß eine beleibte, phlegmatische Frau um die Vierzig. Sie hörte sich Nadeshdas Bericht aufmerksam
     an, stellte ein paar Fragen an Sonja und erklärte dann seelenruhig: »Da sind Sie bei mir falsch. Gehen Sie in Zimmer fünf,
     gleich gegenüber.«
    Zimmer fünf war abgeschlossen.
    »Warten Sie im Flur«, sagte die Frau aus der Fahndungsabteilung, schloß ihr Büro ab und ging Mittag essen.
    Sie warteten etwa zwanzig Minuten. Der schmale Flur war schmutzig und vollgeraucht, es gab weder Stühle noch Bänke, auf die
     man sich hätte setzen können. Nadeshdas Beine waren von der Hitze geschwollen; sie lehnte sich schwer an die Wand.
    »Sie lassen uns absichtlich so lange schmoren«, knurrte sie. »Sie haben keine Lust, sich darum zu kümmern. Die Eltern des
     Mädchens mit dem Asthma waren auch bei der Miliz. Der eine hat gesagt, bei mir sind Sie falsch, der nächste ebenfalls, und
     dann mußten sie eine geschlagene Stunde warten. Da haben sie drauf gepfiffen und sind gegangen. Aber wir beide, Sonja, wir
     sind hartnäckig, wir werden warten. Das darf man nicht auf sich beruhen lassen. Hab ich recht?«
    »Ja.« Sonja nickte zerstreut, in ihre eigenen Gedanken versunken.
    »Wen hast du eigentlich auf dem Foto erkannt?« fragte Nadeshda.
    »Ach, er sieht dem Vater eines Jungen aus meiner Klasse ähnlich«, log Sonja.
    »Weißt du, mein Kind«, sagte Nadeshda leise, »es gibt Gesichter, bei denen denkt man immer, die hat man schon mal gesehen.
     Wenn er ein gefährlicher Verbrecher ist, wird man ihn kaum finden. Zumindest nicht nach einem Foto.«
    »Ja, wahrscheinlich nicht.« Sonja nickte. »Das Mädchen mit dem Asthma – geht es ihr wieder besser?«
    »Na ja, wie man’s nimmt. Asthma ist faktisch unheilbar. Und dieses Mädchen leidet unter einer schweren Form, sie wird mit
     Kortison vollgestopft und ist deshalb sehr dick. Die anderen Kinder hänseln sie, in ihrer Klasse will niemand mit ihr befreundet
     sein, sie geniert sich, regt sich auf – das ist ein Teufelskreis. Asthmatiker dürfen sich nämlich nicht aufregen. Im Sommer
     ist ihr Asthma immer weniger schlimm, da muß sie nicht in die Schule, und die Kinder vom Hof sind alle verreist. In Gesellschaft
     Erwachsener fühlt sie sich sicherer. Und dann dieser Mistkerl! Seinetwegen geht es dem Mädchen wieder schlechter.«
    Ein großer junger Mann in hellen Hosen kam auf Zimmer fünf zu und schloß die Tür auf. An seinem kleinen Finger entdeckte Sonja
     einen ellenlangen Fingernagel und einen massiven Goldring mit einem schwarzen Stein.
    »Wollen Sie zu mir?« fragte er.
    »Wahrscheinlich.«
    »Kommen Sie rein.«
    In dem winzigen Büro standen lediglich ein schäbiger Büroschreibtisch, ein Tresor und drei Stühle. Dennoch wirkte es furchtbar
     eng. Der Hausherr setzte sich an den Schreibtisch und schaltete einen vorsintflutlichen Ventilator auf der Fensterbank ein.
    »Einsatzleiter Skworzow. Ich höre.«
    Unter dem gleichmäßigen Surren des Ventilators erzählte Nadeshda noch einmal alles von vorn.
    »Können Sie den Mann genauer beschreiben?« wandte sich Skworzow an Sonja.
    Es gefiel ihr, daß der Einsatzleiter sie mit »Sie« anredete wie eine Erwachsene.
    »Groß, dünn«, begann sie.
    »Wie groß etwa?«
    »Etwa eins achtzig.«
    »Prima.« Der Einsatzleiter nickte lobend. »Und wie alt ungefähr?«
    »Höchstens dreißig. Dunkle Haare, dünn und zerzaust. Wissen Sie, so wie die Haare von Obdachlosen aussehen, wenn sie lange
     nicht gewaschen und gekämmt sind. Gekleidet war er normal. Aber ich habe ihn mir eigentlich nicht so genau angeschaut.«
    Ruhig, ohne die geringste Verlegenheit schilderte Sonja den Vorfall in allen Einzelheiten. Nadeshda registrierte, daß das
     Mädchen sich sehr rasch von seinem Schock erholt hatte. Zu rasch. Als seien ihre Gedanken inzwischen mit etwas anderem beschäftigt,
     das für sie wichtiger war.
    »Wir werden ihn natürlich suchen. Wir werden tun,

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