Keiner wird weinen
verschwand nach Kanada. Die Gerüchte über die Bande verstummten. Immer seltener träumte Stas von der an den Stuhl gefesselten
Frau und den riesigen braunen Flecken auf der zarten hellblauen Seide. Doch das junge, grauäugige Gesicht des Mannes, der
ohne Gepäck die Treppe heruntergekommen war, das konnte er nicht vergessen.
Und wenn er sich mein Gesicht auch gemerkt hat? dachte Stas dann entsetzt, verscheuchte diesen idiotischen Gedanken jedoch
jedesmal gleich. Ich erinnere mich an ihn, weil das Ganze für mich ein echter Schock war. Das war es für ihn nicht. Für einen
Verbrecher ist Mord etwas ganz Normales.
Und nun, drei Jahre später, erwachte Stas in kaltem Schweiß, sprang aus dem Bett und tigerte durchs Zimmer. Er hatte wieder
von dem Durchschnittsgesicht mit den grauen Augen geträumt.
Veras unverschämter, eigenartiger, ein wenig primitiver Bräutigam war der Einbrecher von damals. Das wußte Stas mit so erschreckender
Klarheit, daß es vergebens gewesen wäre, sich einzureden, er habe sich geirrt.
»Was tun? Mein Gott, was tun?« wiederholte er stumpfsinnig immer wieder, während er in Unterhosen im Zimmer auf und ab lief.
Und wenn der Mörder mich auch erkannt hat? Nein, unmöglich. Ausgeschlossen. Er hat ja gar nicht gewußt, daß ich ausgerechnet
in diese Wohnung wollte. Und das Ganze ist drei Jahre her.
Aber was wollte er von Vera? Er war ein Einbrecher und Mörder. Wenn er nun Vera umbrachte? Hatte sie wirklich keine Ahnung?
Nein, natürlich hatte sie keine Ahnung … Was sollte er nur tun? Es ihr sagen? Er müßte ihr zu vieles erklären. Sie würde ihm
nicht glauben, würde ihn für übergeschnappt halten.
Zur Miliz gehen? Und die alte Geschichte beichten? Dafür gab es schließlich einen Paragraphen. UnterlasseneHilfeleistung oder so was. Damit wäre sein ganzes Leben im Eimer. Das ganze Leben!
Seine Frau schlief im Nebenzimmer tief und fest. Ohne Licht zu machen, tigerte Stas weiter wie ein gefangenes Tier von einer
Zimmerecke in die andere.
Als es draußen bereits hell wurde, nahm Stas zwei Schlaftabletten. Er mußte das Ganze mit klarem Kopf noch einmal überdenken.
Er durfte keine überstürzten Entscheidungen treffen. Und um einen klaren Kopf zu haben, brauchte er wenigstens ein bißchen
Schlaf.
Er wickelte sich in eine Decke, rollte sich zusammen und schlief sofort ein. Zwanzig Minuten später öffnete jemand lautlos
die Wohnungstür.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Der dicke Junge hielt eine mit Wasser gefüllte Shampooflasche aus Plastik in der Hand.
»Wehe, du spritzt mich naß!« sagte Sonja drohend.
»Was ist denn dann?« erkundigte sich der Junge.
Er war einen halben Kopf kleiner als sie und bestimmt ein Jahr jünger. Sonja maß ihn mit einem hochmütigen Blick und sagte
leise: »Wenn du mich naß spritzt, kriegst du eine gefeuert!«
»Pah, erst kriegst du von mir eine gefeuert, und wie! So, daß du in den nächsten Hof fliegst! Dürre Bohnenstange!«
»Was hast du gesagt?« Sonja runzelte drohend die Stirn und trat auf den Jungen zu.
Augenblicklich richtete er den Strahl seiner Spritzflasche auf sie.
»Na warte, jetzt kannst du was erleben! Du Fettwanst, du kleine Bockwurst!« Sonja packte ihn am Gummibund seiner Shorts und
holte aus.
Aber sie schlug nicht zu. Sie konnte generell niemanden schlagen, der schwächer war als sie. Der Junge war zwar dick, aber
eindeutig schwächer als sie.
»Wenn du mir die Hose zerreißt, macht meine Mutter die ganze Woche Theater«, sagte der Junge friedfertig. »Hau mich lieber,
aber mach mir nicht die Hose kaputt.«
Sonja ließ den Hosengummi los.
»Schon gut, geh spielen. Ich hab heute meinen guten Tag.«
»Ist ja keiner da zum Spielen.« Der Junge zuckte die Achseln. »Von unserm Hof sind alle verreist. Es ist stinklangweilig!
Alle sind im Ferienlager oder mit den Eltern am Meer. Ich fahr demnächst zu meiner Tante nach Puschkino. Wohnst du bei den
Saltykows in Wohnung siebenundvierzig?«
»Ja.«
»Bist du mit ihnen verwandt?«
»Vera ist die Freundin meiner Mama. Noch aus der Kindheit«, erklärte Sonja.
»Und wie heißt du?«
»Sonja.«
»Und ich Wadik. Hör mal, soll ich dir mein Nest zeigen?«
»Klar.« Sonja nickte.
»Kannst du auf eine Pappel klettern?«
»Kein Problem.« Sonja schaute zu der riesigen Pappel hinten im Hof. »Da ist also dein Nest, ja?«
»Hm. Hast du Geld dabei?«
»Hab ich. Wieso?«
»Komm, wir laufen zum Kiosk und holen uns ein Eis, dann klettern wir auf
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