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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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ihrer Eltern. Fjodor
     dagegen kam aus einer anderen Welt, fremd und feindlich. Es war Sonja unbegreiflich, wieso Vera das nicht wahrhaben wollte.
    Natürlich würde es schlimm sein für Vera, wenn sie etwas so Häßliches über Fjodor erfuhr, aber Sonja mußte es ihr erzählen.
     Sie mußte schließlich wissen, wen sie da heiraten wollte! Solange es noch nicht zu spät war, solange er weg war und Vera an
     ihrem Computer saß, mußte sie ihr alles erzählen. Am Abend würde er wieder auftauchen und mit ihr ausgehen. Das durfte sie
     nicht zulassen! Vera mußte die Wahrheit erfahren, so schnell wie möglich!
    Nachdem Sonja diesen vernünftigen Beschluß gefaßt hatte, beruhigte sie sich ein wenig, ging zur Haustür und drückte auf die
     Zahlen ihres Türcode.
    Sie achtete nicht auf den großen, gebeugten Mann, der vor den Briefkästen stand. Doch er wandte sich um und kam geradewegs
     auf Sonja zu. Erst war sie nicht erschrocken, nur sehr erstaunt. Sie glaubte, er wolle pinkeln, hier im Hausflur, vor ihren
     Augen. Ein Obdachloser oder ein Verrückter, dachte sie ruhig. Sie trat zur Seite, zum Fahrstuhl, doch er folgte ihr und kam
     ganz dicht heran. Dann vernahm sie ein undeutliches, hastiges Flüstern: »Hab keine Angst, Kleine, hab keine Angst, komm her,
     faß mal an …«
    Sonja schrie laut auf, rannte die Treppe hinauf, ihr Herz hämmerte wie wild, ihr wurde übel.
    Oben im vierten Stock klackte das Schloß, die Tür ging auf. Als erster kam Matwej ihr entgegengestürmt, sprang an ihr hoch,
     leckte ihr das Gesicht und bellte drohend in Richtung Treppe. Kurz danach erschien auch Vera.
    »Sonja, mein Sonnenschein, was ist passiert? Beruhige dich doch, mein Kind, was ist passiert?«
    »Da … da«, konnte Sonja nur sagen und zeigte nach unten.
    Doch dort war niemand mehr.
    »Komm, wir gehen zur Miliz, auf unser Revier. Jetzt gleich«, sagte Veras Mutter barsch, die ebenfalls zu Hause war. »Gestern
     wurde ich zu einem kleinen Mädchen im Nachbarhaus gerufen, sie hat chronisches Asthma. Ihr ist das Gleiche passiert. Danach
     hatte sie einen heftigen Anfall.«
    Sonja leerte in einem Zug eine Tasse kalten Tee mit Zitrone, beruhigte sich und ging mit Nadeshda zusammen zum Milizrevier
     gleich über die Straße.
    »Guten Tag«, sagte Nadeshda zum Diensthabenden hinter der Glasscheibe. »In unserem Treppenhaus wurde gerade ein Mädchen belästigt,
     von einem Mann mit …« – sie stockte –, »mit entblößten Genitalien. Das ist nicht der ersteFall dieser Art, und ich würde gern mit jemandem sprechen und Anzeige erstatten. Sie müssen ihn fassen.«
    »Dich hat er belästigt, ja?« Der Diensthabende sah Sonja an.
    »Ja.« Sie nickte.
    »Hat er dich angefaßt?«
    »Nein. Nur mit mir gesprochen … Was geflüstert.«
    »Und dann?«
    »Dann hab ich geschrien und bin die Treppe raufgerannt.«
    »Ist er dir hinterhergerannt?«
    »Ich weiß nicht. Ich hab mich nicht umgedreht. Er war ganz groß, dünn und gebeugt.«
    »Gut, gehen Sie den Flur lang, rechts, Zimmer acht.«
    Bevor Sonja sich auf den Weg machte, stellte sie sich auf Zehenspitzen und schaute auf den Tisch des Diensthabenden. Ein großes
     Foto hatte ihr Interesse geweckt, das dort unter Glas lag. Sie sah es auf dem Kopf stehend und mühte sich, es richtig zu betrachten.
    »Entschuldigen Sie bitte«, fragte sie schließlich den Diensthabenden und zeigte auf das Foto, »wer ist das?«
    »Ein Verbrecher.«
    »Ist er gefährlich?«
    »Sehr gefährlich.«
    »Kann ich ihn mir mal genauer ansehen?« Sonja ließ nicht locker.
    »Warum?«
    »Na, er wird doch schließlich gesucht, oder?«
    »Du magst wohl Krimis?« Der Diensthabende lächelte.
    »Stimmt.« Sonja nickte. »Lassen Sie mich ihn bitte anschauen. Das Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor.«
    »Hör auf, Sonja!« sagte Nadeshda stirnrunzelnd. »Belästige den Mann nicht mit Albernheiten. Komm jetzt.«
    »Nein, ich muß ihn mir unbedingt ansehen, unbedingt!« Sonja wurde vor Aufregung ganz rot. »Was macht Ihnen das schon aus?«
    »Draußen auf der Straße hängt er im Schaukasten«, sagte der Diensthabende achselzuckend, »da kannst du ihn dir ansehen, soviel
     du willst!«
    Sonja rannte sofort hinaus auf die Straße zu dem staubigen, kaputten Schaukasten und war im nächsten Moment wieder zurück.
    »Nein«, teilte sie mit, »dort hängt er nicht.«
    »Nun zeig ihn doch dem Kind, Serjosha«, meldete sich ein junger Mann in Zivil, der vor dem Tresen stand und rauchte.
    »Na schön, sieh ihn dir an.« Der

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