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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Flur rennen. Vor allem mußt du ganz leise sein, und mach auf keinen Fall Licht. Höchstens
     mal kurz das Türschloß anleuchten, mit der Taschenlampe. Aber nur eine Sekunde.«
    »Und wieviel Leute sind in der Wohnung?« fragte Kolja.
    »Zwei. Ein Mann und eine Frau.«
    »Jung?«
    »Die Frau ist jung, der Professor ist über fünfzig.«
    »Die Wohnung gehört einem Professor?«
    »Ja. Er ist Archäologe. Erforscht den alten Orient.«
    »Und die Frau?«
    »Weiß ich nicht. Schlaf jetzt.«
    »Holst du mich raus aus dem Heim?« fragte der Junge leise.
    »Ja.«
    »Und dann werde ich bei dir leben?«
    »Nein. Du wirst in einem anderen Internat leben, mit normalen Kindern zusammen. In einer Sportschule. DerMongole unterrichtet dort Ringkampf. Und ich nehme dich in den Ferien und am Wochenende zu mir.«
    »Wenn du mich nicht adoptierst, dann erlauben sie dir das nicht.«
    »Doch. Schlaf jetzt. Du hast einen schweren Tag vor dir, das heißt, eine schwere Nacht.«
    Am nächsten Morgen veranstaltete Sachar mit ihm eine Art Probe. Er ließ Skwosnjak vom Balkon durchs Lüftungsfenster in die
     Küche einsteigen. Zweimal. Das war kinderleicht.
    Am Tag schickte Sachar ihn ins Bett. Kolja merkte ihm an, daß er aufgeregt war. Er lief in der Küche auf und ab, rauchte,
     rührte aber keinen Tropfen Alkohol an. Er kochte sich Kaffee und legte Wyssozki auf. Beim Gesang der heiseren Baßstimme döste
     Kolja im Zimmer ein.
    »Du lebst in ’nem wilden, verzauberten Wald, und kein Weg führt dich je wieder raus …«, tönte es vom Tonband.
    Um zwei Uhr nachts verließen sie das Haus. Um die Ecke, im Nachbarhof, wartete ein nagelneuer beigefarbener kleiner Shiguli.
     Am Steuer saß ein Mann, den Kolja nicht kannte, blutjung, stupsnasig, auf dem Kopf eine tief in die Stirn gezogene Ledermütze.
     Neben ihm saß der Mongole, hinten der Fingerlose.
    Nach einer kurzen Fahrt hielten sie in einem stillen Hof vor einem sechsstöckigen Haus mit Säulen und Türmchen. Nur der Mongole
     und Kolja stiegen aus.
    »Siehst du, die Leiter führt direkt am Fenster vorbei. Das Fenster ist offen. Da ist die Küche. Paß vor allem auf, daß du
     keinen Lärm machst, wenn du runterspringst. Bevor du in den Flur gehst, schau dich um, die Augen müssen sich erst an die Dunkelheit
     gewöhnen. Und alles ganz, ganz leise. Verstanden?«
    Kolja nickte.
    »Hast du Angst?« Im blassen, diffusen Licht der Taschenlampe saugten sich die Schlitzaugen an Koljas Gesicht fest.
    »Nein«, antwortete der Junge leise.
    »Hier, die Taschenlampe.« Der Mongole schob ihm einen kleinen Metallquader in die Hand, kaum größer als eine Streichholzschachtel.
    Es war sehr kalt und feucht. Kolja zog die Jacke aus und fröstelte unwillkürlich. Der Mongole nahm ihm die Jacke ab, hob ihn
     mühelos auf die hohe Feuerleiter und verschwand in der Dunkelheit. Kolja hörte das Auto anspringen.
    Nun war er allein. Die vereisten Eisensprossen versengten ihm sofort die Hände. Er kletterte rasch los, bemüht, das Brennen
     in den Händen zu ignorieren.
    Plötzlich knackte eine Sprosse unter seinen Füßen verräterisch. Er begriff: Er konnte jederzeit abstürzen. Ein eiskalter Windstoß
     fuhr ihm ins Gesicht. Über ihm klappte ein Fenster. Ihn durchzuckte der idiotische Gedanke, daß man ihn von dort oben, aus
     dem dunklen Küchenfenster, bemerkt und das Fenster geschlossen hatte. Aber sofort ärgerte er sich über sich. Das war der Wind,
     nur der Wind.
    Er hob den Kopf, schaute hinauf und stellte fest: Das Schwierigste lag noch vor ihm. Für einen kurzen Augenblick würde er
     freihändig auf dem glitschigen Sims balancieren müssen. Er mußte eine Hand von der Leiter lösen und mit der anderen nach dem
     Fensterrahmen greifen. Diese Sekunde konnte ihn das Leben kosten.
    Er mußte vor allem ruhig bleiben, durfte die panische Angst vor dem Abgrund unter dem dritten Stock nicht in sein Herz lassen.
     Dann würde jede Bewegung präzise sein. Nur nicht nach unten schauen … Nur nicht hinschauen …
    Das eisige Simsblech gab leicht nach und federte unter ihm. Im nächsten Augenblick zwängte er sich schon leicht und geschickt
     durch das kleine Fenster.
    Er roch die Wärme der fremden Küche. Unterm Tisch stand eine breite Holzbank. Er setzte sich einen Augenblick darauf, um zu
     verschnaufen, da vernahm er ein trockenes,rasches Klappern, ganz in der Nähe. Eine Schreibmaschine. Das erschreckte ihn nicht, im Gegenteil, es spornte ihn an. Der
     Professor schlief also nicht, er verfaßte

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