Keiner wird weinen
ihn ein, daß der Junge es mit dieser Diagnose nur leichter haben würde. Er hätte keine Probleme
mit dem Wehrdienst, und auch Strafen fielen für Idioten immer milder aus. Aber Sachar blieb stur und beharrte auf seinem Willen.
Wer weiß, was der Junge später einmal machen wollte? Die Diagnose würde seine Möglichkeiten einschränken. Vielleicht wollte
er mal studieren? Warum denn nicht? Bei seinem Verstand war das durchaus drin. Er sollte werden, was er wollte. Aber schwachsinnig,
und sei es auch nur auf dem Papier – das würde er nie sein.Der Mongole kümmerte sich nun ernsthaft um Koljas Ausbildung. In der Turnhalle des Internats gab er ihm abends Privatunterricht.
Er lehrte ihn Karate und Judo, verlangte, er dürfe kein Fleisch essen, nicht rauchen und keinen Alkohol trinken, erzählte
ihm von den geheimen Methoden der tibetischen Medizin und weihte ihn in die Grundlagen des autogenen Trainings, der Meditation
und sogar der fernöstlichen Magie ein.
Der Mongole war keineswegs Buddhist oder Zen-Buddhist. Er hatte sich eine Art eigene Lehre geschaffen, die sich im wesentlichen
auf die Kunst des physischen Überlebens, auf die Erhaltung des eigenen extrem starken, perfekten Organismus beschränkte.
»Der Mensch ist ein schwaches Tier«, sagte der Mongole. »Der Grund deiner Schwäche liegt in dir selbst. Das Wichtigste, was
dir die Kraft raubt, ist das Mitgefühl mit einem anderen Menschen. Wenn du für einen anderen Mitgefühl empfindest, gibst du
ihm einen Teil deiner eigenen Energie. Deine Energie ist das Wertvollste, was du besitzt.«
An den Wochenenden holte Sachar Kolja zu sich und erzog ihn auf seine Weise. »Laß dich nie in Gegenwart anderer gehen. Klage
nie und gib nicht an. Lerne dulden und schweigen, rede nichts Überflüssiges. Jedes deiner Worte muß Gold wert sein.«
Als Kolja fünfzehn geworden war, kam Sachar wieder einmal ins Gefängnis, diesmal für ganze fünf Jahre. Nach seiner Rückkehr
erkannte er seinen Schützling nicht wieder. Er war ein starker junger Wolf, vom Mongolen erzogen und ausgebildet. Er beherrschte
sämtliche Kampfsportarten, konnte mit der Handkante einen Ziegelstein zertrümmern, ganz zu schweigen von menschlichen Knochen.
In seinen grauen nordischen Augen glitzerte dasselbe eisige Feuer wie in den schwarzen orientalischen Schlitzaugen des Mongolen.
Von einem Studium konnte nicht die Rede sein. Der Mongole hatte ihn in all den Jahren aktiv an verschiedenstenDingen beteiligt, und selbst der hartgesottene Sachar schluckte, als er hörte, daß Skwosnjak bereits vier Tote auf dem Konto
hatte. Und das schlimmste: Das Töten machte ihm Spaß. Sachar dachte: Der Junge rächt sich für die Kränkungen, die er als Kind
erlitten hat. Das geht vorbei, er wird bald begreifen, daß am Töten nichts Gutes ist.
»Kolja, ein ehrlicher Dieb läßt sich nur im äußersten Notfall auf Mord ein«, sagte Sachar und kippte noch ein Glas Wodka.
»Trink doch einen Schluck mit mir, Junge.«
Sie saßen in einer intimen Ecke im Restaurant »Praga«.
Kolja aß, geschickt mit Stäbchen hantierend, eine gelbliche, durchsichtige Nudelsuppe mit Muscheln.
»Trinken ist schädlich«, sagte er, ohne den Blick zu heben.
»Hör nicht auf den Mongolen, Junge. Trink einen Schluck mit mir. Laß uns zusammensitzen wie normale Menschen. Und iß lieber
mit der Gabel als mit diesen Dingern, das ist bequemer. Du bist doch kein Chinese.«
Kolja lächelte »Aber das Essen ist chinesisch, da sind Stäbchen sehr bequem. Probier es ruhig mal, so, du mußt sie zwischen
die Finger klemmen.«
»Wozu, Junge?« Sachar verzog das Gesicht. »Ich mag das nicht. Du bist inzwischen richtig erwachsen geworden. Hör mir zu. Umbringen
ist in Ordnung, wenn derjenige es verdient hat. Auch bei einer unfairen Auseinandersetzung kommt so was mal vor oder schlimmstenfalls
im Suff. Oder wenn du deine Haut retten mußt, dann ist es auch in Ordnung. Aber einfach so, für nichts… Das verstehe ich nicht.«
Er schüttelte heftig seinen kahl werdenden Kopf. »Das ist Mist, Junge.«
»Man darf keine Zeugen hinterlassen.« Kolja wischte sich ordentlich mit einer Serviette den Mund ab.
»Der Mongole. Das ist seine Schule.« Sachar lachte bitter. »Ich wollte, daß er dir das Kämpfen beibringt, damit du dichschlagen kannst wie keiner sonst. Aber er hat dir die Seele ausgesaugt, der Hund.«
Über das tiefrote, aufgedunsene Gesicht des alten Diebes rann der Schweiß. Er knöpfte den
Weitere Kostenlose Bücher