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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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einen wissenschaftlichen Aufsatz. Aber nicht mehr lange. Das klägliche Heimkind
     Kolja Skwosnjak wußte, was in ein paar Minuten mit dem Professor geschehen würde, der Professor selbst hingegen wußte es nicht.
     Also war Kolja Skwosnjak stärker und bedeutender.
    Der Inhaber der schicken Wohnung hatte alles: Mutter, Vater, Großmütter und Großväter. Hatte vergnügt vor sich hin gelebt,
     das Schwein, und war Professor geworden. Doch gleich würde Kolja Skwosnjak die Tür dieser stillen, sauberen Wohnung öffnen,
     und dann würde es dem Professor übler ergehen als in seinen schlimmsten Alpträumen.
    Skwosnjak verspürte plötzlich den Wunsch, wenigstens einen kurzen Blick auf den Professor zu werfen. Er kniff die Augen zusammen
     und ballte die Fäuste, um die brennende Neugier zu bezwingen. Das war schwerer, als nicht vom rutschigen Sims zu fallen. Aber
     er schaffte es.
    Seine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt; er schlich auf Zehenspitzen aus der Küche und stand in einer
     breiten Diele. Seine Turnschuhe glitten fast lautlos übers Parkett, nur die Dielen knarrten ein wenig. Er holte die Taschenlampe
     hervor und richtete ihren Strahl kurz auf die Wohnungstür.
    Die Schreibmaschine klapperte noch immer. Mit dem englischen Schloß wurde Skwosnjak schnell fertig.
    Drei Männer kamen in die Wohnung: der Mongole, der Fingerlose und der stupsnasige Bursche, der am Steuer gesessen hatte. Wortlos
     ließen sie Kolja hinaus und schlossen leise die Tür hinter ihm.
    Das Auto wartete um die Ecke. Sachar saß rauchend auf dem Rücksitz, Skwosnjak setzte sich neben ihn. Die Heizung lief.
    »Ist dir kalt?« fragte Sachar und legte den Arm um ihn.
    »Ach, halb so schlimm.« Der Junge winkte ab. »Die Feuerleiter ist verrostet, sie wär beinahe durchgebrochen. Der Professor
     hat übrigens nicht geschlafen. Er hat auf der Schreibmaschine getippt.«
    »Hat er dich gesehen?«
    »Nein.«
    »Na schön. Ist sowieso egal.«
    »Warum?«
    Kolja wußte schon, warum. Aber er wollte es bestätigt bekommen.
    »Der Mongole hinterläßt keine Zeugen«, antwortete Sachar leise. »Er macht selten einen Bruch. Sehr selten. Aber wenn, dann
     gibt es hinterher nie Zeugen. Hier hat er irgendein persönliches Interesse. Der Professor hat eine tibetische Götterfigur
     in seiner Wohnung, eine Art Talisman. Der Mongole sagt, die gehört ihm.«
    »Sie bringen also den Professor und seine Frau um?« fragte Kolja nachdenklich.
    Sachar nickte. »Höchstwahrscheinlich.«
    »Und dieser Gott, ist der aus Gold?«
    »Ich weiß nicht. Der Mongole will ihn für sich haben, nicht zum Verkaufen.«
    »Ist der Mongole größer als du?« fragte Kolja vorsichtig.
    »Wie soll ich sagen?« Sachar zuckte die Achseln. »Ich halte mich an den Kodex, und der Diebeskodex ist eisern. Ich kann vieles
     tun, bin aber auch vielen etwas schuldig. Der Mongole ist niemandem was schuldig. Er ist ganz für sich. Und noch eins. Für
     mich gibt es eine Grenze. Die habe ich mir selbst gesetzt. Ich könnte zum Beispiel nie eine Frau, einen Greis oder ein Kind
     töten. Ich kann es einfach nicht und Punkt. Das ist gegen meine Natur. Der Mongole dagegen, der kann das. Er hat vor nichts
     und niemandem Angst. Vor allem nicht vor sich selbst. Verstehst du?«
    Kolja nickte.
    Ich möchte werden wie der Mongole, nicht wie du, dachte er. Aber das sagte er nicht laut.
     
    Es verging ein halbes Jahr. Eine gewisse Maria Sidorowa beantragte die Vormundschaft für den 1963 geborenen Nikolai Koslow.
     Geregelt wurde das Ganze durch simple Bestechung. Im späten Frühjahr wurde Kolja aus dem Heim abgeholt.
    Während Maria Sidorowa noch die medizinisch-bürokratischen Formalitäten abarbeitete, lief der Junge ihr weg. Kein Wunder –
     Oligophrene neigen häufig zum Vagabundieren. Man suchte nach dem Waisenjungen, aber er blieb spurlos verschwunden.
    Im Herbst wurde im Internat der Dynamo-Sportschule ein Neuer angemeldet. Er hieß Nikolai Sacharow und war zwölf Jahre alt.
     Den Unterlagen zufolge waren seine Eltern ein Jahr zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
    Sachar hatte entschieden, daß von dem ungerechten Urteil, von Koljas beleidigender Diagnose keine Spur bleiben durfte. Es
     genügte ihm nicht, die Diagnose einfach aufheben, für einen Irrtum erklären zu lassen, obwohl auch das problemlos möglich
     gewesen wäre – gegen ein Schmiergeld. Er wollte das Wort »Oligophrenie« für immer aus dem Lebenslauf des Jungen tilgen.
    Kluge Menschen redeten auf

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