Keiner wird weinen
stahlgrauen Augen blickten ins Dunkel und wirkten wie bodenlose schwarze Löcher. Skwosnjak schwieg, und dabei wurde Golowkin
ganz mulmig. Die Pause wurde langsam unerträglich. Golowkin zündete sich eine Zigarette an und mußte sofort husten. Dann sagte
er: »Ich habe doch unter der Nummer angerufen, aber da blafft eine junge Frauenstimme: ›Hier ist keine Firma mehr. Das ist
eine Privatwohnung. Bitte streichen Sie die Nummer, und rufen Sie nie wieder an!‹ Sie ist offenbar total genervt von den dauernden
Anrufen. Vor kurzem wurden übrigens in vielen Bezirken die Nummern geändert. Ach ja – Telefon- und Faxnummerder Firma Star-Service waren identisch. Ich habe ein Testfax abgeschickt, irgendein Werbeblatt, und das Gerät hat gemeldet,
daß das Fax empfangen wurde.«
»Na schön.« Skwosnjak stand auf und gab damit zu verstehen, daß das Gespräch beendet war. »Besorg mir die Adresse der Wohnung,
wo du nicht mehr anrufen sollst.«
»Ich versuch’s.« Golowkin nickte. »Aber wozu?«
»Für alle Fälle«, erwiderte Skwosnjak und verschwand in der Dunkelheit.
Wieder allein, zündete sich Golowkin erneut eine Zigarette an.
Er will den zweiten Kurbatow finden. Aber wozu dann die Leute, denen man zufällig diese Nummer zugeteilt hat? Nein, in diesem
Fall konnte Golowkin Skwosnjaks Logik nicht folgen.
Es hatte wieder angefangen zu nieseln. Der teure neue Anzug würde selbstverständlich nicht färben, trotzdem hatte Golowkin
keine Lust, naß zu werden. Doch er hatte wieder keinen Schirm dabei. Wirklich gemein!
Golowkin stand auf, trat die halb aufgerauchte Zigarette aus und eilte zur Metro.
Wolodja rutschte auf einer Bananenschale aus. Als er aufstand, entdeckte er, daß ein Hosenbein am Knie zerrissen war, das
Knie blutete und die bis aufs Blut aufgescheuerten Hände schmutzig waren. Schmerz verspürte er nicht, nur Ärger und Ekel vor
seinen eigenen schmutzigen Händen.
Na gut, es war ohnehin Zeit, nach Hause zurückzukehren. Wieder ohne Resultat. Der Mann, mit dem der Dicke gesprochen hatte,
war plötzlich in der Dunkelheit verschwunden. Mit ihm hatte sich der Dicke schon dreimal getroffen. Sein Gesicht hatte Wolodja
nicht erkennen können. Er hatte nur eine Silhouette ausgemacht, nicht sehr groß, untersetzt und leichte, geschmeidige Bewegungen.
Der Unbekannte traf sich mit dem Dicken stets in der Dämmerung und wählte dafür menschenleere Orte, stille Höfe mit unbeleuchteten
Bänken. Ganz offensichtlich war der Mann auf der Flucht. Er verschwand spurlos in der Dunkelheit und tauchte aus dem Nichts
auf. Wie ein Lufthauch, ein Skwosnjak! Das Wort kam ihm ganz unwillkürlich in den Sinn.
Wolodja befürchtete, daß jede Begegnung des Banditen mit dem Dicken die letzte sein könnte. Also durfte er Golowkin nicht
aus den Augen lassen. Wolodja nahm Urlaub, gestattete sich höchstens vier Stunden Schlaf am Tag und aß fast nichts. Von sechs
Uhr morgens an folgte er Golowkin wie ein Schatten.
Er wagte sich nicht zu nahe heran, denn er wußte, wie sich das Gespür schärfte, wenn man ständig unbemerkt, unerkannt bleiben
mußte. Falls dem Banditen Wolodjas Beschattung auffiel, würde er ihn töten, und das Böse bliebe ungestraft – das schlimmste,
übelste Böse.
Ein Foto vom Kopf der Bande hing seit anderthalb Jahren in den Schaukästen vor allen Bezirksrevieren der Miliz.
»Fahndung nach einem gefährlichen Verbrecher. Ca. 1,75 Meter groß, normale Figur. Keine besonderen Kennzeichen.«
Eine Stecknadel im Heuhaufen!
Die Scheibe des Schaukastens vor dem Milizrevier in Wolodjas Nähe war kaputt, und Wolodja hatte das Plakat mit dem Foto klammheimlich
abgemacht und trug es immer bei sich. Das Papier war in seiner Tasche schon ganz brüchig geworden.
Damit ein Gesicht auf einem Foto wiedererkennbar war, mußte es irgend etwas Individuelles, Besonderes haben. Doch das Gesicht
des Banditen Skwosnjak auf dem Foto hatte nichts Besonderes, Auffälliges. Es war ein ganz normales Gesicht, durchaus sympathisch,
gerade Nase, harter, männlicher Mund. Solche gab es viele. Wenn man ihm aufder Straße begegnete, würde er einem kaum auffallen. Wolodja hatte schon vor langer Zeit in einem Interview mit einem Milizoberst
gelesen, daß die Täterfotos in den Schaukästen selten dazu beitrugen, jemanden zu fassen. Sie wirkten mehr auf den Täter selbst,
sorgten für zusätzlichen psychischen Druck.
Doch Wolodja sah sich das Foto so oft und so lange an, daß ihm
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