Keiner wird weinen
konnte ihn doch nicht einfach draußen auf der Straße lassen,
bei Frost, er war ein Haustier, das sah man.
Am nächsten Morgen hängten sie Zettel aus: »Irischer Setter zugelaufen …« Bekannte rieten ihnen, sich an eine spezielle Agentur
zu wenden. Sie warteten fast vier Wochen. Niemand meldete sich. Das gutherzige Mädchen in der Agentur sagte zu ihnen: »Den
sucht niemand. Behalten Sie ihn.«
»Aber er ist keine Promenadenmischung, das ist ein Rassehund«, wandte Vera unsicher ein. »So ein Tier ist doch teuer.«
»Sie haben ihren Spaß gehabt und ihn dann ausgesetzt.« Das Mädchen seufzte. »So ergeht es vielen Hunden, auch reinrassigen.«
Der Tierarzt erklärte, der Hund sei höchstens ein halbes Jahr alt, ein reinrassiger Irischer Setter, er brauche viel Auslauf
und müsse auf die Jagd gehen.
»Auf die Jagd – das hat uns gerade noch gefehlt!« rief Veras Mutter.
Der reinrassige Matwej war bei weitem nicht so klug und verständig wie die Promenadenmischung Kusja und verlangte viel mehr
Aufmerksamkeit. Dauernd mußte man mit ihm spielen, mit ihm reden – er war wie ein launisches Kind. Hin und wieder bekam er
einen Rappel, schnappte sich einen Schuh oder eine Socke und raste durch die Wohnung, wobei er alles, was ihm in den Weg geriet,
herunterriß. Er zerknabberte einen ganzen Berg guter Schuhe, verstand kein Schimpfen und kein freundliches Zureden, und schlagen
konnte ihn weder Vera noch ihre Mutter.
Wenn in seiner Hundeseele Urinstinkte erwachten, wälzte er sich in verfaultem Fleisch, das er im Hof auf dem Müll fand, um
seinen Geruch zu verändern und so einen vermeintlichenFeind zu täuschen. Dann steckte Vera den Hund in die Badewanne, mühsam gegen die Übelkeit ob des unglaublichen Gestanks ankämpfend.
Probleme und Sorgen gab es mit Matwej jede Menge. Von Anfang an, als klar war, daß der Hund im Haus bleiben würde, hatte Vera
sich geschworen: Ich werde mein Herz nicht zu sehr an ihn hängen. Er ist ein so vertrauensseliger Dummkopf, er möchte sich
mit allen Hunden der Welt anfreunden, zudem brodeln in ihm die Leidenschaften des jungen Rüden, ihm kann alles Mögliche zustoßen
…
Und nun war es passiert. Der Hund war weg, diesmal wirklich, das spürte Vera. Sie stellte sich vor, wie er von einem Auto
überfahren wurde, wie andere Hunde ihn totbissen, wie er in Panik durch die nächtliche Stadt rannte, sich in Spuren und Gerüchen
verirrte und nicht nach Hause fand.
Vera ging leise in die Küche, holte die Zigaretten aus ihrem Geheimversteck und rauchte am offenen Fenster. Sie rauchte äußerst
selten und stets so, daß ihre Mutter es nicht sah.
Es war eine warme, stille Nacht, die Blätter der hohen alten Pappeln vorm Fenster rauschten sanft. Hin und wieder ertönte
betrunkenes Grölen und Lachen. Vera wurde auf einmal wehmütig, sie fühlte sich vollkommen einsam und schutzlos. Sie hätte
gern mit jemandem geredet, ihren Kummer wegen Matwej mit jemandem geteilt.
Sie wollte schon zum Telefon greifen, Stas Selinski schlief um diese Zeit noch nicht. Aber vermutlich würde sie sich nach
einem Gespräch mit ihm noch mieser fühlen. Stas war die falsche Adresse, wenn man sich ausheulen wollte. Er ertrug kein Klagen
und keine Tränen. Überhaupt gab es nur wenige Menschen, bei denen man sich ohne Scham ausheulen konnte. Diese Rolle übernahm
häufig Vera selbst. Sie verstand sich darauf, andere mühelos und sanft zu trösten, sie konnte sich in fremde Probleme hineinversetzen,
bei ihr brauchte man sich nicht zu genieren. Stas erzählte ihr stetsvon seinen Affären mit anderen Frauen und kam gar nicht auf den Gedanken, daß ihr das unangenehm sein könnte.
Vera fand immer, ihre eigene Liebe sei wichtiger als seine fehlende Liebe, seine seelische Grobheit. Auch wenn er sie nicht
liebte, bescherte er ihr doch dieses wunderbare, geheimnisvolle Gefühl, das mit Worten nicht zu erklären ist, das alles ringsum
heller, bedeutender erscheinen läßt.
Vera war sich bewußt, daß sie wahrscheinlich gar nicht mehr Selinski liebte, sondern vielmehr ihre eigenen kindlichen, romantischen
Phantasien, als sie mit ihren sechzehn, siebzehn Jahren eine komplizierte »erwachsene« Affäre mit einem »erwachsenen« Mann
hatte.
Doch seit ihrer letzten Begegnung sah Vera ihren angebeteten Stas mit völlig anderen Augen. Er war ein feiger, geldgieriger,
selbstverliebter Weiberheld – mehr nicht. Das war öde und widerlich.
Alle, die Vera kannten,
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