Keiner wird weinen
nicht.« Vera wickelte Sonja in ein Frotteebadetuch. »Matwej ist zwar gutmütig, aber mit einem Fremden würde
er nicht mitgehen.«
»Und wenn ihn ein guter Mensch findet und ihn uns zurückgeben will?«
»Er kann unterscheiden, wer ein guter Mensch ist und wer nicht.« Vera lächelte traurig.
Sonja schlüpfte unter die Decke, preßte ihre Puppe an sich und flüsterte: »Ich bin schuld. Das verzeihe ich mir nie!«
»Schlaf, meine Kleine, du bist überhaupt nicht schuld.«Vera küßte sie auf den dunklen, seidigen Haarschopf. »Schlaf jetzt. Der Morgen ist klüger als der Abend.«
Eigentlich waren weder Vera noch ihre Mutter große Hundeliebhaber. Mit acht Jahren hatte Vera auf der Straße einen winzigen
Welpen aufgelesen. Er war halbtot vor Hunger, eine Pfote war gebrochen. Die Mutter erlaubte ihr, den Hund zu behalten, bis
er wieder gesund war, »und dann«, sagte sie, »bringen wir ihn irgendwo unter. Ein Hund hat uns gerade noch gefehlt bei meinen
anderthalb Stellen! Wer soll denn mit ihm spazierengehen? Das ist doch wie ein kleines Kind!«
Der Welpe kam rasch zu Kräften. Nach einem Monat war er rund und flauschig, die Pfote war wieder in Ordnung, er hinkte nur
noch ein wenig. Vera nannte den Hund Kusja, in der Tierklinik bekam er alle nötigen Impfungen, und man sagte ihnen, er sei
ein gutes, gesundes Tier, eine Promenadenmischung mit einem Anteil Airedaleterrier. Auch ausgewachsen würde er relativ klein
bleiben, kaum größer als ein Bologneser.
Natürlich brachten sie Kusja nirgendwohin. Er war ein kluger, sanfter Hund, sehr verständig – nach zwei, drei ernsthaften
Auseinandersetzungen hatte er begriffen, daß er keine Hausschuhe zerbeißen durfte, und eines Tages gehörte er ganz zur Familie.
In der Wohnung gegenüber lebte ein streitsüchtiges, stark trinkendes Ehepaar. Die beiden verlagerten ihre Kräche regelmäßig
ins Treppenhaus, schrieen sich an, prügelten sich, anschließend vertrugen sie sich wieder, tranken zur Versöhnung miteinander,
und dann ging es von vorn los.
Wie die meisten Hunde konnte Kusja Betrunkene nicht leiden. Wenn er den lauten Nachbarn begegnete, bedachte er sie mit schrägen,
unfreundlichen Blicken, und wenn sie sich besonders stürmisch aufführten, knurrte er und fletschte die Zähne.
Eines Tages kam Vera mit Kusja vom üblichen Abendspaziergang zurück. Kusja war ohne Leine. Auf dem Treppenabsatzwar der betrunkene Nachbar dabei, seiner Angetrauten die restlichen Haare auszureißen, und sie traktierte ihren teuren Gatten
mit einem Schrubber.
Vera nahm Kusja auf den Arm. An die Wand gepreßt, wollte sie zu ihrer Tür schlüpfen, doch der Schrubber der Betrunkenen traf
ihre Schulter. Augenblicklich sprang Kusja von ihren Armen. Er konnte nicht hinnehmen, daß jemand sein Frauchen mit einem
Stock schlug. Seine Nackenhaare waren gesträubt. Mit wildem Bellen stürzte er sich auf die tobende Nachbarin und schlug seine
Zähne in ihr Bein. Sie kreischte auf und schleuderte Kusja mit solcher Wucht von sich, daß das kleine, flauschige schwarzweiße
Knäuel übers Treppengeländer flog und vom vierten Stock hinunterstürzte.
An den Rest erinnerte Vera sich nicht. Noch nie hatte sie so furchtbar geweint. Heulend rannte sie die Treppen hinunter, fiel
mehrmals hin, schlug sich das Knie auf. Ihre Mutter lief hinterher, konnte sie aber nicht einholen.
Lange bemühte sich die Mutter vergebens, Vera aus ihrem Schockzustand herauszulösen, und schwor sich, nie wieder ein Tier
ins Haus zu nehmen.
»Tiere sind allem so hilflos ausgeliefert – grausamen Menschen, Autos, selbst Krankheiten. Und überhaupt, ein Hundeleben ist
so kurz, und man hängt doch an so einem Tier fast wie an einem Kind«, sagte sie. »Ich will nicht, daß wir beide so etwas noch
einmal durchmachen.«
Viele Jahre später kam Vera eines Abends von der Arbeit nach Hause. Es war Februar und bitterkalt. Unter einer Straßenlampe
wuselte ein rotbraunes Knäuel herum. Als es Vera entdeckte, stürmte es auf sie zu, wedelte freudig mit dem Schwanz und sprang
an ihr hoch.
»Du verwechselst mich, Kleiner«, sagte Vera seufzend und schwor sich unerbittlich: Nein!
Aber sie wußte: Sie konnte diesem durchgefrorenen braunen Glück nicht entrinnen. Sie redete sich und dann ihrerMutter ein, sie würden den Hund nur eine Weile behalten, bis sich die Besitzer gefunden hätten. Er war schließlich ein Rassehund,
irgend jemand suchte ihn bestimmt und machte sich Sorgen. Und man
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