Keiner wird weinen
bestaunten ihre Geduld und ihre Sanftheit. Sie war kein bißchen nachtragend, sie verzieh leicht. Es
war ihr peinlich, von einem anderen schlecht zu denken, ihm Betrug und dreisten Eigennutz zu unterstellen. Sie konnte nicht
fordern, handeln, auf ihre legitimen Rechte pochen. Vera war leicht zu betrügen, und es gab genügend Menschen, die das mit
Freude taten.
Viele Male war sie für schwere Übersetzungsarbeiten nicht ausreichend oder gar nicht bezahlt worden, war mit Versprechungen
abgespeist, mit dem Hinweis auf momentane Schwierigkeiten vertröstet worden. Sie war eine sehr gute Simultandolmetscherin,
für Englisch ebenso wie für Französisch. Zudem war sie pünktlich, pflichtbewußt und korrekt. Es kam vor, daß sie ohne jeden
Vertrag engagiert wurde oder daß der Vertrag gefälscht war; sie rackerte sich ab bei Geschäftsverhandlungen, bearbeitete Berge
komplizierter, langweiliger Dokumentationen, und wenn es Zeit wurde für die Abrechnung, verschwanden die Auftraggeber plötzlich
oder klagten über unvorhergesehene Schwierigkeitenund die schlechten Zeiten und appellierten an ihr Mitgefühl und ihr Verständnis. Am Ende hatte sie bestenfalls einen kläglichen
Vorschuß bekommen, etwa ein Zehntel dessen, was sie eigentlich hätte verdienen müssen.
Manche, die sie einmal betrogen hatten, kamen auf den Geschmack und wandten sich ein zweites Mal an sie. Warum nicht? Wenn
sich dieses Dummchen so leicht übers Ohr hauen und mit einem Zehntel abspeisen ließ, warum sollte man das nicht ausnutzen?
Vera willigte ein, aber nicht, weil sie dumm war. Dummheit und Kultiviertheit sind verschiedene Dinge, auch wenn manche beides
gern gleichsetzen.
Die Auftraggeber wiegten sich in der Illusion, sie könnten Veras Gutmütigkeit und Vertrauensseligkeit endlos ausnutzen. Doch
auch ihre Geduld hatte Grenzen, und das demonstrierte sie mitunter ganz überraschend. Die stille, wehrlose, hilfsbereite »kostenlose«
Vera sagte eines Tages: Schluß, Kinder. Ihr verhaltet euch unanständig, ich hab die Nase voll von euch.
Natürlich gab es haufenweise arbeitslose Übersetzer, aber real beherrschte die Hälfte davon die Sprache gerade mal auf Schulniveau,
und die andere Hälfte verlangte zweihundert Dollar für sechs Stunden Simultandolmetschen und acht Dollar pro übersetzte Seite.
Die Auftraggeber boten Vera doppelt soviel Geld an, dreimal soviel, fünfmal soviel, rechtfertigten sich, entschuldigten sich,
überschütteten sie mit Komplimenten, drohten und forderten. Alles vergebens. Wenn sie einmal nein gesagt hatte, dann war sie
weder mit Geld noch mit Versprechungen oder Drohungen davon abzubringen.
Es ging nicht einmal um das Geld, obwohl Vera natürlich wie jeder normale Mensch welches brauchte. Es war ihr einfach zuwider.
Sie glaubte und rechtfertigte bis zum letzten, oft entgegen jeder Logik. Doch wenn sie einem Menschen einmal nicht mehr traute
und ihn nicht mehr respektierte, dann brach sie jeden Kontakt mit ihm ab.
Allerdings glaubte Vera, diese ihre »Hinterhältigkeit« betreffe nur die Arbeit, berufliche Beziehungen, mitunter Bekannte,
niemals jedoch den lieben Selinski. Stas würde sie immer dulden, ihm würde sie alles verzeihen, niemals würde sie aufhören,
ihn zu lieben.
Nun war sie überrascht von sich. Es wäre logischer gewesen, ihn nach so vielen Jahren »komplizierter« Beziehung zu hassen,
unter widersprüchlichen Gefühlen zu leiden, innerlich eine echte Seifenoper durchzumachen, mit Leidenschaften, Kampf zwischen
Liebe und Haß, zu heulen, ins Kissen zu beißen. Statt dessen empfand sie einfach Überdruß. Sie mochte ihn nicht anrufen, nicht
nur jetzt, nein, überhaupt nie mehr.
Liebte sie ihn tatsächlich nicht mehr? Was für ein Glück, nach fünfzehn Jahren … Nun war sie frei von dieser belastenden,
demütigenden, unnützen Liebe. Und? Was sollte sie jetzt mit dreißig mit ihrer lang ersehnten Freiheit anfangen? Sich an eine
Partneragentur wenden? Eine Annonce aufgeben? »Blondine, Moskauerin, 30/157/59, keine finanziellen und Wohnraumprobleme, möchte
anständigen Mann für ernsthafte Beziehung kennenlernen«?
Vera drückte ihre Zigarette aus. Sie mußte ins Bett. Da klingelte das Telefon.
»Guten Tag. Entschuldigen Sie den späten Anruf«, sagte eine angenehme Männerstimme, »bitte legen Sie nicht gleich auf, und
sagen Sie nicht, ich hätte mich verwählt.«
»Wen wollen Sie denn sprechen?« fragte sie.
»Ich möchte Sie sprechen«,
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