Keiner wird weinen
Greis bereits ein halbes
Jahr tot. Die Nachbarin behauptete, die Saslawskaja hätte ihm ein Bild gebracht – sie wollte wissen, ob es ein Original war
oder eine Fälschung. Dieses Bild habe auf den Alten angeblich einen unauslöschlichen Eindruck gemacht. Angeblich hatte er
seiner Schwester erzählt, er hätte vor kurzem ein unschätzbares Chagall-Original aus dessen Witebsker Periode in der Hand
gehalten.
Ein Chagall war bei einem der Wohnungseinbrüche gestohlen worden. Serafima Saslawskaja aber versicherte, ein
Bild mit einem schwebenden Pärchen und einer lächelnden Katze nie gesehen zu haben, und zu dem Kunstwissenschaftler habe sie
ein Stück von einem alten Gobelin gebracht. Überprüfen ließ sich das nicht – weder damals noch jetzt.
Die Saslawskaja war vor einem Jahr gestorben, sie hatte nichts mehr ins Antiquitätengeschäft gebracht, der einzige Neffe erschien
nicht zur Beerdigung, er war auf einer Dienstreise.
Uwarow begriff, was ihm keine Ruhe ließ: der Wunsch, sich mit diesem Neffen zu unterhalten, dem bescheidenenChefeinkäufer der Makkaronifabrik, diesem Herrn Golowkin. Zu den beiden vagen Anhaltspunkten, der antiken Uhr und dem Chagall,
hatte sich wie von selbst noch ein dritter gefügt. Eines der Bandenmitglieder, allerdings keiner von denen, die sie gefaßt
hatten, sondern jemand, der von Skwosnjak wegen Drogen getötet worden war, hatte einmal, vor langer Zeit und nur ein paar
Monate, als Expedient in der Makkaronifabirk in Sokolniki gearbeitet. Damals hatten sie das für Zufall gehalten. Das heißt,
sie hatten es nicht weiter beachtet.
Außerdem nahm Uwarow sich vor, Skwosnjaks Kindheit noch einmal nach dem verstorbenen Dieb Sachar zu durchleuchten. Es mußte
vieles geben, was sie verband. Niemand besuchte das Grab eines Fremden. Vielleicht reichte Skwosnjaks rührende Anhänglichkeit
an Sachar in die Kindheit zurück.
Sachars Grab war Skwosnjaks einzige bekannte Schwäche, gegen jede Vernunft besuchte er es. Obwohl er wußte, daß das riskant
war. Auch jetzt war er dort gewesen. Allerdings hatte er den Zeugen sofort beseitigt.
Schon das letztemal hatten sie versucht, da anzusetzen, und herausgefunden, daß Sachar Mitte der siebziger Jahre mit einem
fixen Jungen von zehn, zwölf Jahren herumgezogen war. Doch wer der Junge war, woher er kam und wo er später abgeblieben war,
das ließ sich nicht feststellen. Zu viele Jahre waren inzwischen vergangen.
Golowkins Frau Raïssa war zu ihrer Freundin auf die Datscha gefahren, ohne ihrem Mann ein Wort zu sagen. Sie hätte bereits
vor einer Woche fahren können, hatte aber gezögert, als warte sie auf etwas oder als hocke sie absichtlich von früh bis spät
in der Wohnung, um ihren Mann zu ärgern. Sie hatte Schulferien und nichts zu tun. Golowkin harrte ungeduldig auf den Moment,
da seine Angetraute endlich aufbrach.
Sie verbrachte den Sommer immer in Powarowo an der Leningrader Chaussee, sechzig Kilometer entfernt von Moskau. Ihre engste
Freundin besaß dort in einer Genossenschaft ein Sechshundert-Quadratmeter-Grundstück mit einem kleinen Haus.
Raïssa konnte jeden Moment ohne Vorwarnung bei ihrem Mann in Moskau auftauchen. Besonders gern tat sie das spätabends, und
jedesmal wenn sie die Wohnung betrat, untersuchte sie penibel jede Ecke, schnüffelte herum, um herauszufinden, ob in ihrer
Abwesenheit Frauen dagewesen waren. Golowkin hatte den Eindruck, sie war regelrecht enttäuscht, daß sie nie Spuren von gemeinem
Ehebruch fand.
In den zwanzig Jahren, die sie nun zusammen lebten, hatte er seine Frau tatsächlich nie betrogen. Na ja, fast nie. In seiner
Jugend war auf Dienstreisen hin und wieder schon etwas vorgekommen, aber das war stets zufällig und öde gewesen. Die flüchtige
Liebe des langweiligen, geizigen Dienstreisenden lockte nur vulgäre Hotelschlampen oder Frauen, die jegliche Hoffnung verloren
hatten – einsam, häßlich, mit wehmütigen, flehenden Augen und reizloser Unterwäsche. Bei ersteren bestand immer das Risiko,
sich eine scheußliche Geschlechtskrankheit einzufangen, mit letzteren fühlte Golowkin sich gehemmt und unbehaglich, irgendwie
schuldig.
Manchmal begegneten Golowkin Frauen, bei denen ihm der Atem stockte. Es zog ihn zu grazilen, zerbrechlichen, hellhaarigen
mit blauen Augen, weißer Haut, schlanken Armen und Beinen. Er mochte engelhafte, ätherische Wesen mit durchsichtigen Fingerchen.
Früher einmal, in grauer Vorzeit, hatte seine Raïssa
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