Keiner wird weinen
kleine Zerrung. Wir machen nachher eine Alkoholkompresse.Ist nicht weiter schlimm. Was für ein kleiner Fuß, wie bei einem Kind.« Er hielt ihren Fuß in der Hand, und plötzlich legte
er seine Lippen darauf und küßte ganz langsam jeden einzelnen Zeh, den Spann, den Knöchel.
Vera erstarrte. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Sie hatte davon gelesen, es im Kino gesehen. Stas Selinski tat so etwas
nie. Seine Zärtlichkeiten waren derb, immer ein wenig träge und herablassend. Und andere Männer kannte Vera nicht.
»Nicht, Fjodor, wir wollen nichts überstürzen, ich gehe jetzt lieber nach Hause …«, sagte sie leise.
»Wir überstürzen doch nichts.«
Er kniete noch immer vor ihr. Seine Lippen glitten kitzelnd und zärtlich über ihre nackten Beine. Ihr leichtes Kunstseidenkleid
hatte vorn viele kleine Knöpfe. Er öffnete langsam einen nach dem anderen.
Er strahlte eine eigentümliche, bestrickende Energie aus. Eine animalische Anziehungskraft, dachte Vera, ich empfinde doch
nichts für ihn, er ist ein vollkommen Fremder …
Aber sie wollte sich nicht mehr wehren und nicht mehr nachdenken. Vera schloß die Augen und löste sich in heißer, sanfter
Schwerelosigkeit auf.
Achtzehntes Kapitel
Juri Uwarow schlug die laufende Mappe der mehrbändigen Akte auf. Er kannte fast jede Zeile der Ermittlungsunterlagen. Hinter
diesen Zeilen standen schlaflose Nächte, ein Kaleidoskop von Personen, Vernehmungen, Tränen, die toten Augen der von Skwosnjaks
brutaler Bande Ermordeten.
Wie viele Kilometer waren Ermittler und operative Einsatzkräfte kreuz und quer durch Moskau gefahren und gelaufen – und immer
waren es Sackgassen gewesen.
Skwosnjak hatte einen Informanten getötet, der vermutlich etwas über ihn mitteilen wollte. Und nun war alles aus.Nun konnten sie den Wind im Feld suchen. Es war, als ob dieser Mann aus der Luft käme, sich von Luft ernährte, nirgends wohnte
und mit niemandem schlief. Er hatte keinerlei Kontakte. Ein ganzer Stab von Informanten war darauf angesetzt und hatte bislang
nichts herausgefunden.
Uwarow steckte sich eine Zigarette an und tigerte in seinem Büro von einer Ecke in die andere. Na schön, keine Bekannten,
keine Verwandten, keine Frauen. So etwas kam vor. Aber niemand konnte sich von Luft ernähren. Man brauchte auf jeden Fall
Geld, wenn man so lange auf der Flucht war. Irgend jemand mußte ihn damit versorgen. Den Schatzmeister der Bande hatten sie
nie ermittelt. Es hatte mehrere Kandidaten für diesen ehrenvollen Posten gegeben, doch die waren alle weggefallen. Die Banditen
selbst beteuerten, sie hätten nie einen Schatzmeister gehabt. Dafür hatten sie vermutlich gute Gründe … Aber vielleicht gab
es wirklich keinen Schatzmeister?
Trotzdem blieb vieles offen.
Einer der Geschädigten, ein Junge, der bei seiner Rückkehr von der Armee seine ganze Familie ermordet aufgefunden hatte, glaubte
einen aus der Wohnung gestohlenen Gegenstand wiedererkannt zu haben. Eine antike goldene Taschenuhr.
Der Junge hatte sofort den zuständigen Staatsanwalt Klimenko angerufen. Doch Klimenko hatte die Uhr von Anfang an nicht ernst
genommen. Ein solcher Gegenstand konnte nicht einfach so in einem Antiquitätengeschäft am Arbat auftauchen. Das war zu simpel.
Der Staatsanwalt behielt recht. Die Uhr hatte eine alleinstehende Oma gebracht, Serafima Saslawskaja. Sie gehörte ihr. Der
Junge hatte sich geirrt. Schließlich gab es viele ähnliche Dinge, selbst wenn sie antik und selten waren.
Die Saslawskaja wurde trotzdem für alle Fälle überprüft. Aber das wäre nicht nötig gewesen. Sie hatte tatsächlich niemanden.
Sie bekam nie Besuch. In einer Gemeinschaftswohnungwußte man solche Dinge genau. Nur äußerst selten ließ sich mal ihr Großneffe blicken. Auch den hatten sie unter die Lupe genommen
– für alle Fälle. Der stille, bescheidene Chefeinkäufer einer Makkaronifabrik lebte von seinem kargen Gehalt, trug seine Schuhe,
bis sie Löcher hatten, sein Anzug war vom Alter speckig. Also wieder eine Sackgasse.
Und wenn dieser Junge sich nun doch nicht geirrt hatte? Immerhin hatte er die Uhr sogar gekauft, die Ausgabe nicht gescheut.
Offenkundig war er sich sicher, daß sie aus der Wohnung seiner Eltern stammte.
Noch ein Umstand war interessant. Das heißt, es war eher ein Gerücht, Gerede. Eine Nachbarin der Saslawskja hatte einen Bruder,
einen zweiundachtzigjährigen pensionierten Kunstwissenschaftler. Als die Ermittlungen liefen, war der
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