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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Brüderschaft?«
    Vera nickte. »Ja.«
    Er stand auf, trat ganz dicht vor sie und beugte sich zu ihr hinunter. Nach einem raschen Schluck aus seinem Glas berührte
     er mit den Lippen Veras Mund. Wieder verspürte Vera einen Anflug von etwas Heißem, Angespanntem, Bedrohlichem, aber zugleich
     auch Schwindelerregendem.
    Ich bin schon ganz menschenscheu geworden durch meine Treue zu Stas, dachte sie, dabei liebt mich der gute Stas nur, wenn
     ich ihm entgleite. Warum ihm also nicht für immer entgleiten? Das wäre eine passende Gelegenheit … Warum sich Gedanken machen,
     was daraus wird?
    »Gehen wir noch ein Stück spazieren?« fragte Fjodor, als sie das Restaurant verließen. »Bis zu Ihrem Haus sind es nur ein
     paar Schritte, und ich möchte mich noch nicht von Ihnen trennen.«
    »Es ist schon spät.«
    »Wenigstens bis zum Boulevard, dann kehren wir gleich um. Ein bißchen frische Luft vorm Schlafengehen ist gesund.«
    »Na schön, bis zum Boulevard und zurück.«
    Auf der Hauptstraße waren Bauarbeiten im Gang. Vera hatte keine Brille auf und sah im Dunkeln sehr schlecht. Sie stolperte,
     knickte um, und knackend brach ein Absatz ab.
    »Tut es sehr weh?« Fjodor hockte sich vor sie, sie stand auf einem Bein und stützte sich auf seine Schulter.
    »Es geht, ist ja nicht mehr weit, mit deiner Hilfe humple ich schon irgendwie nach Hause«, antwortete Vera, das Gesicht vor
     Schmerz verzerrt. »Schade um die Sandaletten. Meine Ausgehschuhe.«
    »Bis zu mir ist es näher«, sagte Fjodor. »Und humpeln mußt du nicht.« Er hob sie mühelos auf den Arm.
    Vor Überraschung wußte Vera nicht, wie sie reagieren sollte. Sie staunte, daß er sie ohne die geringste Anstrengung trug –
     sie war nicht gerade ein Leichtgewicht.
    »Danke, aber ich muß trotzdem nach Hause«, sagte Vera leise, »und setz mich lieber wieder ab. Ich bin schwer, du hebst dir
     noch einen Bruch.«
    »Ach wo!« Er strich mit seinen Lippen leicht über ihre Wange. »Eine liebe Last ist nie zu schwer. Der Absatz muß repariert
     werden, dazu muß ich hämmern, und bei dir schlafen schon alle, außerdem hast du kaum den richtigen Kleber im Haus und die
     passenden Nägel. Es tut dir doch leid um die Schuhe.«
    »Aber dazu müssen wir den Absatz erst mal finden, du mußt mich also auf jeden Fall absetzen. Das ist doch wirklich lächerlich.
     Ich bin schließlich kein Kind mehr und alles andere als ein Däumelinchen.«
    Er setzte sie behutsam ab, bückte sich und suchte nach dem Absatz. Vera humpelte mühsam, auf seine Schuler gestützt.
    Fjodor wohnte tatsächlich ganz in der Nähe. Die Gasse parallel zum Boulevard bestand aus gleichförmigen neungeschossigen Plattenbauten.
    Langsam und mühselig stiegen sie hinauf in den vierten Stock. Als er den Schlüssel zückte und die Tür aufschloß,wurde Vera ganz mulmig zumute. Sie wäre am liebsten geflohen, sie hatte das Gefühl, wenn sie die Schwelle überschreite, überschritte
     sie damit etwas Wichtiges, Ernsthaftes in sich selbst. Sie wußte nicht recht, ob das gut war oder schlecht – vielleicht war
     es ja überhaupt wunderbar, und sie brauchte keine Angst zu haben.
    »Na, was stehst du da wie angewurzelt?« fragte er, als er ihre Unentschlossenheit spürte. »Komm rein, genier dich nicht.«
    Fjodor zog sie regelrecht in die Wohnung, nicht direkt mit Gewalt, aber ziemlich energisch, und setzte sie in einen Sessel.
    Vera sah sich um. Eine winzige Einzimmerwohnung. Die Küche ging direkt vom Zimmer ab. Nur wenig Möbel: ein Couchtisch, ein
     kleiner tragbarer Fernseher, zwei Sessel, eine niedrige breite Liege mit einer karierten Decke, ein kleiner polierter 60er-Jahre-Schrank.
     Die Wohnung kam Vera irgendwie seltsam vor, unbewohnt.
    Im Restaurant hat er seelenruhig zweihundert Dollar hingeblättert, aber seine Behausung wirkt richtig ärmlich. Vielleicht
     ist das nur eine Zweitwohnung? Vielleicht hat er Frau und Kinder, und hierher führt er nur solche Dummchen wie mich?
    »Ich mag nichts für die Wohnung kaufen, solange ich allein bin«, sagte Fjodor, als hätte er ihre Gedanken gelesen, »ich mag
     sie nicht. Ich halte mich hier möglichst selten auf. Nur zum Übernachten.«
    Er warf sein Jackett ab, kniete sich vor sie und öffnete die Riemchen ihrer Sandaletten. Dann tastete er vorsichtig Fuß und
     Knöchel ab.
    »Tut das weh? Versuch mal die Zehen zu bewegen.«
    »Hast du etwa eine medizinische Ausbildung?« fragte Vera erstaunt.
    »Nein. Aber ich verstehe was von Verletzungen. Du hast eine

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