Keiner wird weinen
eine scharfe Kritik dazu erschienen.
DerDichter wurde nahezu verfemt, bekam damit einen Platz in den ehrenvollen Reihen der von der Sowjetmacht Verfolgten und wurde
sofort auf Jahre hinaus berühmt. Er mußte nicht einmal mehr Gedichte schreiben. Was er auch nicht tat.
Bei den Zirkelsitzungen wurde jedesmal ein Poem oder eine Gedichtsammlung diskutiert. Jeder hörte nur sich selbst zu. Jeder
kam nur, um einmal in drei Monaten »diskutiert« zu werden.
Die fünfzehnjährige Vera war die jüngste und unauffälligste ständige Besucherin des Zirkels. Die hochmütigen Fräulein mit
Zigarette im Mundwinkel nannten sie herablassend »Kindchen«, die jungen Männer nahmen sie gar nicht wahr. Dennoch hatte sie
das Gefühl, an etwas Bedeutendem, Erhaben-Geistigem teilzuhaben. Die Werke der verkannten Genies erschienen ihr genial, die
boshaften gegenseitigen Sticheleien der Zirkelmitglieder nahm sie als Musterbeispiele erlesener Gedanken.
Zur Diskussion von Veras kindlichen Gedichten kam es zum Glück nicht.
Einer der Stammgäste des Literaturzirkels, ein dreiundzwanzigjähriger Student, lud eines Tages eine kleine Gruppe zu sich
auf die Datscha ein. Es war ein sehr warmer Mai.
»Komm doch auch mit, Kleine!« sagte er nach einem raschen Blick in ihr rosiges, rundes Gesicht unter dem weichen Pony.
»Ich rufe nur meine Mama an!«
»Bringt dich denn anschließend jemand nach Hause?« fragte ihre Mutter am Telefon.
»Natürlich, Mama, mach dir keine Sorgen.«
Die einstöckige Datscha befand sich fünfzig Kilometer hinter Moskau. Im Vorortzug schaute Vera aus dem Fenster und lauschte
den Gesprächen, in denen Puschkin familiär Sascha, Mandelstam Ossja und Pasternak Borja genannt wurde, als gehörten diese
Genies der russischen Poesie zum engen Freundeskreis der jungen Dichter.
Im Garten stand auf einem Holztisch eine Fünfliterflasche trüber Selbstgebrannter. Vera, die noch nie einen Tropfen Alkohol
getrunken hatte, kippte mit zusammengekniffenen Augen fast ein ganzes Wasserglas davon in sich hinein, das ihr ebenso wie
allen anderen freundlich angeboten wurde. Niemand hielt sie davon ab. Als sie die scheußliche brennende Flüssigkeit runtergeschluckt
hatte, nahm sie sich aus irgendeiner Schachtel lässig eine Zigarette und rauchte. Sie wollte sein wie die anderen – locker,
raffiniert, erfahren und kompliziert.
Zu essen stand wenig auf dem Tisch, nur Brot, Schmelzkäse und dicke Stücken Wurst. Vera trank noch ein halbes Glas Selbstgebrannten,
ohne etwas zu essen.
Danach erinnerte sie sich nur an das Klimpern des verstimmten Flügels in der dunklen Veranda, an verwaschene Flecke lachender
Gesichter und ein Flugzeugdröhnen in den Ohren.
Von einem heftigen Schmerz im Unterleib und ihrem eigenen Schrei kam sie zu sich. Sie öffnete die Augen, erblickte über sich
ein fremdes, bärtiges Gesicht und fand, daß ein splitternackter Mann mit Bart irgendwie abstoßend und obszön aussah. Bevor
sie irgend etwas begriffen hatte, schlug sie mit aller Kraft ihre kleine Faust in das bärtige Gesicht; dann erst erkannte
sie den Hausherrn der Datscha, Stas Selinski.
»Ich liebe dich, hab keine Angst, es ist alles gut, hab keine Angst«, flüsterte er und wollte sie festhalten.
Zitternd und schluchzend riß sie sich los und suchte im Dunkeln auf dem Boden nach ihrer Kleidung. Er zog sich ebenfalls an,
murmelte, er habe sich auf den ersten Blick in sie verliebt, könne ohne sie nicht leben und daß sie sich nun nie mehr trennen
würden.
Im Haus war es still, die Gäste waren wohl gegangen oder eingeschlafen. Selinski trottete hinter ihr her zur Bahnstation und
murmelte weiter Beteuerungen und Entschuldigungen.Er sprach sie kein einziges Mal mit ihrem Namen an, und Vera begriff, daß er sich nicht einmal erinnerte, wie sie hieß.
Das schlimmste aber war, daß Stas ihr von allen Stammgästen des Literaturzirkels auf Anhieb am besten gefallen hatte. Er galt
als der Begabteste, sah nicht übel aus und sprach stets geistreich, witzig, beinahe in Aphorismen.
Die ganze Fahrt bis Moskau schwieg Vera, bemüht, ihren langsam ernüchternden Begleiter nicht anzusehen. Als sie aus der Metro
stiegen, bat er sie um ihre Telefonnummer.
»Eine Frau in deinem Alter sollte längst einen Mann haben«, sagte er, »früher oder später wäre das sowieso passiert. Wenn
nicht ich, dann eben ein anderer. Warum also nicht ich? Du gefällst mir wirklich.«
Sie gab ihm ihre Nummer nicht, ging ins Haus und
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