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Keiner wird weinen

Keiner wird weinen

Titel: Keiner wird weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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feste Arbeit. In diesem Monat habe ich zwei Kilo zugenommen.
    Vera richtete sich auf, strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht und schnitt sich selbst eine häßliche Grimasse.
    Na los, streng dich an, mach dich schön, lüg dir vor, daß es ihm wichtig ist, wie du aussiehst. Du bist für ihn nur ein dickes
     Wörterbuch, ein Computer, den er ein- und ausschalten kann, wie er gerade Lust hat.
    Als Kind hatte man Vera »Pfannkuchen« gerufen. Sie war klein und rundlich gewesen, hatte hellblondes Haar und blaßblaue Augen.
     Auch ihre Augenbrauen und Wimpern waren hellblond, und sogar sie selbst fand, ihr rundes, weiches Gesicht sehe aus wie aus
     Teig, wie ein Pfannkuchen eben. Ihre Haut war weiß und zart, sehr empfindlich gegenSonne und Wind. Bei Frost wurde ihre kleine Stupsnase augenblicklich rot, bei Sonne verbrannte sie und pellte sich. Sobald
     sie nur ein bißchen nervös war, glühten ihre Wangen puterrot. Jedes Gefühl spiegelte sich umgehend auf ihrem Gesicht. Sie
     konnte nicht lügen und sich nicht verstellen. Wenn sie enttäuscht war, wurde ihr Gesicht unwillkürlich lang, die Mundwinkel
     hingen wie von selbst herab. Wenn sie sich freute, strahlten ihre Augen leuchtendblau, ihr Mund verzog sich zu einem glücklichen
     Welpenlächeln, die Wangen röteten sich sanft. Sie wußte um diese dumme Eigenheit, war aber machtlos dagegen.
    Seit ihrem siebten Lebensjahr trug Vera eine Brille, die ihr nicht stand, weil sie ihre ohnehin nicht großen Augen noch verkleinerte
     und sie gänzlich uninteressant und unweiblich aussehen ließ. Mit zwölf versuchte Vera ein paar Pfunde abzuhungern. Sie aß
     den ganzen Tag nichts. Um das sensible Thema nicht mit ihrer Mutter diskutieren zu müssen, machte sie sich, wenn sie aus der
     Schule kam, die bereitstehende Suppe warm, füllte sie in einen Teller, den sie dann ordentlich in die Toilette leerte, abwusch
     und im Abtropfgestell stehenließ.
    »Hast du was gegessen, Kind?« fragte die Mutter jeden Tag, wenn sie von der Arbeit kam.
    »Natürlich«, antwortete die Tochter, wandte sich ab und wurde glühendrot.
    Nachts schlich Vera dann in die Küche und aß mehrere dicke Scheiben Wurst, bestrich sich vorm Kühlschrank Weißbrot mit Butter
     und verachtete sich zutiefst. Um sich zu trösten, stopfte sie sich ein halbes Dutzend Pralinen in den Mund.
    Ihr Vater hatte eine neue Familie und interessierte sich nicht für Vera. Die Mutter arbeitete auf anderthalb Stellen, und
     das Mädchen war ab dem siebten Lebensjahr sich selbst überlassen. Sie wurde früh selbständig, pflichtbewußt und ordentlich.
    Als die Zeit der heißen Schulaffären anbrach, der Diskos bei gedämpftem Licht, stellte Vera das Essen gänzlich ein, auch nachts.
     Sie nahm tatsächlich ein wenig ab und war überglücklich, bis sie eines Tages bei einem schriftlichen Geometrietest in Ohnmacht
     fiel.
    »Du wirst nie dünn sein, Vera. Finde dich damit ab und quäl dich nicht«, sagte die Mutter zu ihr.
    Eine von Veras positiven Charaktereigenschaften war ihre Fähigkeit, Unangenehmes schnell zu vergessen. Sie fand sich rasch
     sowohl mit ihren eigenen inneren Problemen wie auch mit Kränkungen von außen ab. Ihre Stimmung konnte durch eine Kleinigkeit
     augenblicklich zum Guten umschlagen. Zum Beispiel weil ein warmer Regen fiel oder es aufhörte zu regnen und endlich wieder
     die Sonne schien, weil im Hof zwei Welpen, ein weißer und ein schwarzer, einander jagten und das so komisch aussah oder weil
     im Radio ein Beatles-Titel lief.
    Mit zehn fing Vera an, Gedichte zu schreiben. Bis sie vierzehn war, zeigte sie die niemandem außer ihrer Mutter. Doch eines
     Tages brachte die Mutter heimlich ein paar ihrer Gedichte zu einer beliebten Jugendzeitschrift. Dort sagte man der Mutter,
     das Mädchen habe ein gewisses Talent, veröffentlichte die Gedichte zwar nicht, lud Vera aber in den Literaturzirkel der Zeitschrift
     ein.
    Von da an ging sie einmal in der Woche abends in die Redaktion, wo sich im Sitzungssaal düstere langhaarige oder kahlgeschorene
     junge Männer, hochmütige Fräulein in weiten Pullovern und verrückte alte Genies versammelten.
    Geleitet wurde der Zirkel von einem populären sowjetischen Dichter, einem gutmütigen, stark trinkenden Mann mit äußerst verwickeltem
     Privatleben und einigen dünnen Lyrikbändchen. Die Lyrikbändchen waren vor langer Zeit erschienen, Ende der Sechziger. Niemand
     hätte die beiden Büchlein zur Kenntnis genommen, wäre nicht in der Parteizeitung »Prawda«

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