Keinesfalls Liebe (German Edition)
seiner Erzählung auch erst einmal durchringen mussten, kamen gar nicht wirklich in seinem Kopf an, so abwesend war er.
Etwas zu wissen wird schnell zum Fluch.
Dann hing natürlich viel von Carlos’ Frieden am seidenen Faden, weil in der Uni alle nur ein einziges Gesprächsthema hatten: Pauls Tod und die Rolle, die Carlos dabei spielte. Das zumindest berichtete Celine, die als Einzige in die Uni gegangen war. Im Gegensatz zu ihren bisherigen Trauermomenten hatte sie dagegen angekämpft, sich in ein schwarzes Loch ziehen zu lassen.
„Ryan ist auch nicht gekommen, natürlich“, sagte Celine beim frühen Mittagessen. „Ich habe nur ein paar Jungs aus Daniels Gang gesehen. Ich kenne nur noch zwei von ihnen namentlich – da war Chris, der sah ziemlich fertig aus; er war ein Freund von Paul. Und Jake, Pauls Stiefbruder. Der ist noch nicht lang in Kalifornien. Seine Mutter ist eine der vielen Alibifrauen, die Michael Grey sich aus aller Herren Länder holt, um den Eindruck einer perfekten Familie zu erwecken. Jake dürfte nicht allzu sehr an Paul gehangen haben; er sah zumindest nicht danach aus, als würde er großartig trauern. Ansonsten: geschockte Gesichter, wohin man nur schaut.“
Ich hatte nur kurz Zeit, mich über die komplexen Vorgänge in der Familie Grey zu wundern, so lange, bis mir auffiel, dass Celine einen ganz bestimmten Jemand nicht erwähnt hatte.
„Daniel war nicht da?“, fragte ich verblüfft.
Celine zuckte mit den Schultern. „Ich hab auf der Suche nach einem Prof, dem ich eine wichtige Frage stellen musste, den ganzen Campus abgeklappert, aber ich hab Daniel nicht gesehen.“
Warum, um alles in der Welt, ging Daniel nicht zur Uni?
„Ich … hab überlegt, ob wir anrufen sollen“, murmelte Sean.
Celine runzelte die Stirn. „Du meinst im Krankenhaus? Sie haben in einer halben Stunde Besuchszeit. Wozu anrufen?“
„Nein, nicht im Krankenhaus.“ Er seufzte tief. „Ich finde, wir sollten bei Ryans Familie vorbeigehen oder anrufen.“
Ich hätte mich fast an meinem Orangensaft verschluckt. „Wie bitte?!“
„Sieh’s doch mal so, Jo – Carlos ist unser Freund. Seine Eltern in Spanien wollen nichts von ihm wissen. Es … ich fühle mich, als wäre es meine Pflicht, Ryan wenigstens mein Beileid auszusprechen.“
Dem konnte ich nichts entgegensetzen. Der Gedanke, Ryan zu begegnen – in der Verfassung eines leidenden, trauernden jüngeren Bruders – behagte mir gar nicht, aber ich hatte dasselbe Gefühl von Verantwortung in meinem Herzen, von dem auch Sean sprach.
Celine willigte ebenfalls ein, und wir beschlossen nach dem Essen ins Krankenhaus zu fahren und dann bei Ryan anzurufen.
Ich hoffte nur, die Familie würde unseren Anruf nicht als Unverschämtheit werten, denn das war durchaus eine Möglichkeit. Ich konnte mir gut vorstellen, was ich getan hätte, wenn mein Bruder Noah getötet worden wäre: Ich hätte den Täter zerfleischt wie ein Wolf seine Beute.
Hey, Bruderherz!
Ich weiß, du hast viel zu tun am anderen Ende der Welt, aber ich hoffe, du schaust trotzdem bald mal in deine Mails.
Ich vermiss dich. Ist immer noch alles gut in San Bernardino? Erzähl mir noch mal vom Unileben!
Grüßchen aus dem regnerischen Stuttgart,
dein Noah
PS: Kommst du mich in den Semesterferien besuchen?
Hallo, Brüderchen,
in San Bernardino ist alles gut. Nur ein bisschen Stress mit den Leuten hier.
Ach, ich hab mit einem Typen geschlafen! Hätt‘ ich fast vergessen.
Das Wetter ist fantastisch. Bisher nur viermal Regen, und das ist schon eine Seltenheit. Vermutlich ziehe ich blödes Wetter einfach magisch an.
Ich vermiss dich auch.
Hab dich lieb.
Liebe Grüße,
Jo
P.S.: Pass auf dich auf und schau beim Überqueren von Straßen brav nach rechts und links! Hier gab’s einen schlimmen Unfall, bei dem jemand gestorben ist. Carlos, einer meiner Freunde, war darin verwickelt. Es fällt mir irgendwie schwer, damit umzugehen. Aber das wird schon. Ich darf mich einfach nicht so sehr runterziehen lassen. Das Problem ist nur, dass hier in Kalifornien unter den gegebenen Umständen die Todesstrafe verhängt werden kann. Erst war es fahrlässige Tötung, dann plötzlich nicht mehr. Celine hat erzählt, dass die Polizisten Carlos gesagt haben, einer von Pauls Angehörigen wolle eine Mordanklage durchsetzen – und das würde bedeuten, dass Carlos die Giftspritze bekommen könnte. Celine hat gesagt, Pauls Familie sei in Kalifornien extrem einflussreich. Das ist so schrecklich.
PPS: Klar! Nur
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