Keinesfalls Liebe (German Edition)
verließ.
„Wie lange dauert es eigentlich noch, glaubt ihr?“, fragte ich vorsichtig, als wir vor das Wohnheim traten. Stimmengewirr schlug uns entgegen; tatsächlich herrschte in der Studentensiedlung schon rege Betriebsamkeit, wie jeden Morgen.
„Was meinst du?“ Celine hob eine Augenbraue.
„Bis man Carlos findet“, präzisierte ich kleinlaut.
Kaum dass ich den Blick seufzend von ihnen abgewandt hatte und wir am Fuß der Treppe angekommen waren, kollidierten meine Augen mit denen eines jungen Mannes. Sie waren grau und funkelten abwartend. Und sie waren voller Gewaltbereitschaft.
Komm runter! , schien dieses Glitzern zu brüllen. Ich warte auf dich und mach dich fertig!
Ich erstarrte.
„Jo, was ist?“ Sean berührte mit gerunzelter Stirn meinen Arm. „Hey, alles klar?“
Der grauäugige Mann fixierte mich einen Moment, dann verwickelte er eine nahestehende junge Frau in ein Gespräch.
„Jo!“
„Ist das nicht Jake?“, fragte ich flüsternd, ohne den Blick von dem angeregt plaudernden Mann zu nehmen.
„Wer?“
Ich zeigte so unauffällig wie möglich auf ihn.
„Oh, ja.“ Celine lächelte freudlos. „Jake. Er sieht echt gut aus, aber seine Art gefällt mir nicht.“
„Ganz sicher? Hundert Prozent? Der mit den grauen Augen und den dunkelbraunen Haaren?“, fragte ich, wobei meine Stimme viel zu hoch klang.
„Ja, das ist er“, sagte Sean; jetzt klang er verunsichert. „Jakob Reimann.“
„Reimann?“, wiederholte ich irritiert.
„Er ist eigentlich Deutscher“, erklärte Sean. Er schaute kurz zu ihm, dann wieder zu mir. „Man weiß nicht viel über ihn. Seine Mutter – eine Deutsche – hat noch einmal geheiratet, hier in Kalifornien, und lebt seit Kurzem hier mit ihm und ihrem neuen Ehemann: Michael Grey – ein ganz schrecklicher Mensch. Ich hab dir schon von ihm erzählt. Ganz San Bernardino kennt ihn und spricht nur hinter vorgehaltener Hand und zugezogenen Vorhängen von ihm.“ Er schüttelte sich, als wäre ihm etwas unangenehm. „Ihm wird mehrfache Vergewaltigung und Mord unterstellt, mal davon abgesehen, dass sich ein paar prüde Leute daran stören, dass er sowohl mit Frauen als auch mit Männern ins Bett geht.“
„Mord?“, wiederholte ich entsetzt. „Und wieso tut niemand was gegen ihn?“
Seans Blick war so eisig wie der Schauer, der mir über den Rücken huschte. „Man kann nichts gegen ihn machen, Jo. Der Kerl ist unantastbar, weil er reich ist und unglaublich viele Gönner und Helfer hat. Davon profitiert natürlich jetzt auch Jake. Ein Bekannter von mir, Derrick, hat ihn kürzlich angezeigt, weil er von ihm verprügelt worden ist. Nach zwei Tagen hat er die Anzeige zurückgezogen, und Jake musste nicht mehr tun als ungewöhnlich oft in seiner Nähe auftauchen und ihn anstarren.“
„Wie auch immer.“ Celine schob sich eine Haarsträhne zurück. „Grey hat etwas an sich, das dich sofort in seinen Bann zieht, aber nicht in positivem Sinne. Du bist wie hypnotisiert, starrst diesen attraktiven Mann an und weißt, du musst aufhören, weil es gefährlich ist, aber du kannst nicht.“ Sie erschauerte. „Irgendwie weißt du, dass er böse ist … und vielleicht sogar wahnsinnig.“
„Er ist wahnsinnig“, ergänzte Sean mit belegter Stimme. „Mich hat fast mal ein Auto überfahren. Ich bin zur Seite gehechtet, voll mit dem Knie auf die Bordsteinkante – oh Mann, das war vielleicht eine Menge Blut“, lachte er bitter. „Im selben Moment ist Grey vorbei gekommen. Hat mich im langsamen Weitergehen angestarrt, wie ich da auf dem Boden saß und mühevoll versuchte, die Blutung zu stillen. Es war mein erster Tag an der Uni und ich war ich früh dran, kein Mensch war in der Nähe, und das Handy lag zerschmettert auf dem Gehweg. Ich saß da also, ohne Chance auf Hilfe, und als ich sah, dass er weiterging, rief ich ‚Hey!‘, aber er fixierte mich nur wie eine Schlange ihr Abendessen. Total unheimlich.“
Benommen und verstört schaute ich ihn an.
Sean zuckte seufzend mit den Schultern und grinste zum wiederholten Mal freudlos, als er sagte: „Aber ich war nicht weit von der nächsten Arztpraxis entfernt; ich bin nicht verblutet, wie man sieht. Ach, und so viel zu deiner Theorie, wir wären nicht die Figuren in einem Horrorfilm, Jo“, ergänzte er lachend. „Na ja. Los, lasst uns zur Uni gehen.“
Diese kleine Horrorgeschichte hatte sich wie ein Druck auf mein Herz gelegt, der mich die ganze Zeit über in den Vorlesungen und Seminaren begleitete.
In der
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