Keinmaerchen
wieder ab und während sie neues kocht, heult sie Diamanten. Aber jetzt wird sie weniger heulen. Und irgendwann vielleicht gar nicht mehr. Irgendwann wird sie sich fragen, warum das Kellerfenster vernagelt ist und er wird die Bretter abmachen und das restliche Holz in den Ofen werfen. Und sie werden nichts sehen. Nicht die Schatten, nicht ihn, der zwischen den leeren Dosen hockt und seine Netze weiter spinnt und dabei lacht.
Ist er fertig?, fragt er.
Nein, sage ich. Geh weg. Das Hämmern hat aufgehört. Der Alb aus Marmor ist verschwunden. An seiner Stelle steht ein roher Klotz. Scharfkantig und störrisch. In den Augen des Mädchens spiegeln sich die Formen des Albs. Ihre Hände zittern über die Kanten. Die Ohren, die Schultern, die Arme, hinab bis zu den Füßen. Sie presst ihre Stirn an seine Knie und jetzt zittern auch ihre Schultern. Ich weiß wie sie sich fühlt. Und der kleine Junge weiß es auch. Jeder hier weiß es. Jeder hier kennt die Leere, die zurückbleibt, wenn er die Albe mit sich nimmt. Die Angst, die plötzlich ganz dir selbst gehört. Kein Alb, der sie mitbringt, kein Alb, der sie in seinem Magen bündelt. Oder in den Händen oder hinter seiner Stirn. Es fühlt sich richtiger an, wenn man sie in den Alben findet. Erträglicher.
Er hat wunderschöne Flügel, sage ich. Die feinen Adern ziehen sich wie ein Gespinst durch die felsige Haut. Sie pulsieren unter meinen Fingern. Er sehnt sich danach, die Flügel auszubreiten. Sie hoch über seinen Kopf zu recken. Fast spüre ich den Windzug auf meinen Wangen. Spar die Flügel bis zuletzt auf, sage ich, sonst wird er sich wehren.
Sie sieht mich nicht an, aber ihre Hände tasten nach dem Hammer, schließen sich um den abgegriffenen Stiel. Weiße Knöchel. Warum?, fragt sie. Warum muss es so schwer sein?
Muss es nicht, sage ich. Alice. Wie die aus dem Wunderland?
Manchmal, sagt sie. Manchmal. Wenn ich schrumpfe und alles unerreichbar ist. Zu groß, zu weit weg, zu schwer. Sie hat ein schönes Lächeln. Ein trauriges Lächeln, aber sie lächelt.
Warst du schon mal draußen?, frage ich. Es gibt doch ein Draußen. Oder nicht?
Sie zuckt mit den Schultern. Ich weiß nicht, ob ich das wissen will, sagt sie und setzt den Meißel an. Ganz unten an den Zehen. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich wie unter einer schweren Last. Sie legt das Werkzeug beiseite.
Das macht nichts, sage ich. Du fängst eben morgen an.
Es ist morgen, sagt sie. Weißt du das denn nicht?
Natürlich. Ich weiß. Komm mit, sage ich.
Wohin?, fragt sie.
Wohin? Woher soll ich das wissen. Sind alle Kinder hier in diesem Raum?, frage ich. Oder gibt es noch mehr?
Nur die gewöhnlichen, sagt sie. Zwischen ihren Augen erscheint eine kleine Falte. Manche werden abgeholt, wenn sie so weit sind.
Wie weit?, frage ich.
Wenn sie gut sind, sagt sie und gibt dem Hammer einen Tritt. Wenn ihre Albe perfekt sind. Besser als unsere.
Mein Alb drückt mir die Klauen in die Handfläche und plötzlich sehe ich wieder Holz in ihm. Meine Augen brennen. Ich will meine Augenbinde zurück. Das ist nicht fair, sage ich.
Fair?, fragt er. Er krabbelt am Bein des Steinalbs hoch und macht es sich in seiner Kniekehle bequem.
Wie lange sitzt du da schon?, frage ich.
Seit gestern, sagt er und lacht.
Hau ab, sage ich. Verdammter Lügner. Du hast gesagt, ich sei gut. Meine Albe werden besser.
Willst du sie sehen?, fragt er. Die besten? In seinen Augen flackern Funken. Es knistert.
Nein, sage ich. Ich will nicht. Der Alb keucht und windet sich in meiner Hand. Ich lockere meinen Griff.
Du bist ein Kind, sagt er. Ein trotziges Kind. Ich sollte dich zurückbringen. Es hat keinen Zweck mit dir. Verschwendete Zeit.
Das wirst du nicht tun. Ich weiß, dass er das nicht tun wird. Er braucht mich. Er braucht meine Albe. Zeig sie mir, sage ich. Los, zeig sie mir.
Dr. Stein
Ich habe ihr das Cello abgenommen. Ich konnte den Anblick nicht mehr ertragen. Ihre Finger, die verzweifelt über die Saiten strichen und zu instabil waren, sie zu greifen. Ich hoffe, das war die richtige Entscheidung.
Für einen Moment sah es so aus, als kehrte sie zurück. Die Konturen ihres Körpers wurden schärfer, ihre Haut überzog der Anschein von Lebendigkeit, ein Hauch Farbe. Es dauerte nur zwanzig Sekunden, dann versteifte sie sich, begann zu zittern und fiel in sich zusammen.
Um 16.35 Uhr begann sie zu krampfen, ihre Körpertemperatur fiel noch weiter und beträgt jetzt exakt 33 Grad. Sie bekommt bereits die doppelte Dosis, das ist mehr
Weitere Kostenlose Bücher