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Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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die ihn zu den Grenzen des Reichs transportieren. Was treibt sie an? Ist es die Furcht selbst, die sie nährt? Unsere Furcht, die der Menschen?
    Nur die nördliche und östliche Grenze wird noch mit Teer beschickt. Was mag mit den anderen Grenzen sein? Sind sie bereits löchrig geworden, zerfallen sie ohne die pechige Bindung? Das könnte ein Ausweg sein, nicht nur für mich, für alle meine Brüder, die in den Schatten darben, leiden, sterben. Denn das ist kein Trugbild, dessen bin ich mir nun sicher. Keine Rhithiau wäre in der Lage etwas so Gewaltiges, Umfassendes zu schaffen. Sie haben mich genarrt, aber nicht wie ich vermutete. War es die Furcht, die sie dazu brachte, mich ins Schattenreich zu schicken oder war es Fatum? Was es auch war, ich werde mein Schicksal selbst lenken, ich werde bestehen.
    Ich kann die Furcht nicht mehr spüren, sie befindet sich nicht hier bei der Teergrube. Möglicherweise wartet sie darin, bis der Gestank der Angst in ihre Nüstern dringt und zu sich lockt wie ein geiles Weib. Aber es wird nicht meine Angst sein, die sie lockt, und ich werde nicht nach ihr suchen, nicht jetzt. Ich habe mein Ziel aus den Augen verloren, ich habe eine Aufgabe zu erledigen, ich muss zum Seelenbecken, die Toten zur letzten Schlacht befehlen. Ich komme zurück, wenn die Schlacht geschlagen und mein Zorn beschwichtigt ist. Ich komme zurück und finde sie, und wenn ich selbst in die Teergrube tauchen muss.
    Das Seelenbecken liegt im Westen, jenseits der Kreideberge und der uralten Geysire. Nun, da ich im Schattenreich bin, werde ich den kurzen Weg wählen. Ich folge dem Förderband zur westlichen Grenze und hoffe, dass die Himmelsrichtungen im Schattenreich sich nicht gewandelt haben.
    Meine Flügel sind nutzlos in der zähen Luft des Schattenreichs, ich muss zu Fuß gehen und werde mich im Schutz der Bäume bewegen, zu groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Furcht nach mir sucht, auch wenn ich ihre Anwesenheit nicht fühle.
    Es ist so still, seit ich die Schreie meiner Brüder nicht mehr hören kann, aber ich kann sie immer noch spüren, ihre Verzweiflung, ihre Einsamkeit, ihre Seelenqual. Es schmerzt mich, sie zurücklassen zu müssen, aber ich kann ihnen nicht helfen, sie müssen ihr Schicksal ertragen wie ich das meine ertrug.
    Je näher ich nach Westen gelange, desto leichter wird die Luft, das Schattenreich verliert seine Gedrängtheit, die Grenze muss sich auflösen, ohne den Zusammenhalt des Teers. Was wird geschehen, wenn sie fällt? Die Schatten werden nach außen drängen, in die Welt der Menschen und in die unsere, sie werden sich über die Welten legen und mit Düsternis verunreinigen.
    Im Unterholz raschelt Getier, selbst die Aranha wagen sich nicht aus ihren Verstecken. Sie spinnen ihre Netze im morschen Gehölz der verkümmerten Föhren und warten. Sie werden alles überdauern, wie sie das bereits seit Anbeginn der Zeiten tun, sie sind schlau und flink, zäh und bereit, sich in neue Gegebenheiten zu fügen und sich die Umstände zu Nutze zu machen. Sie beobachten mich, vieläugig und stumm hungern sie nach meinem Blut, ich spüre ihre Gier auf meiner Haut, als krabbelten sie darüber und schlügen ihre Kieferklauen in mein Fleisch.
    Ihre Zahl muss sich vervielfacht haben, kaum ein Gewächs, das nicht in ihre filigranen Netze gehüllt ist, kaum eine Baumgruppe, die ich durchschreiten kann, ohne mich ihrer Geflechte erwehren zu müssen, die an meinem Leib haften bleiben, als hätten sie sie mit Pech getränkt.
    Ich muss aus dem Waldstück hinausgelangen, wenn mein Weg nicht hier zu Ende sein soll. Ich bin in eine riesige Falle gelaufen, ich habe die Aranha unterschätzt, sowohl ihre Zahl, als auch ihren Hunger. Ich kann hören, wie sie sich nähern, den Aufprall ihrer gedrungenen Körper, wenn sie von Ast zu Ast springen, das Rascheln ihrer flinken Füße im trockenen Laub, das den Boden bedeckt. Die ersten Kundschafter haben meine Füße erreicht, klammern sich an meine Zehen, schlagen ihre Zangen in mein Fleisch, testen die Güte meines Blutes. Ich spucke auf sie und suche nach einem Fluchtweg. Ihre Netze hindern mich am Weiterkommen, ich darf mich nicht in ihnen verfangen, muss meine Schritte bedenken, meinen Geist wachhalten. Aber vor allem darf ich die Furcht nicht aus ihrer Verbannung befreien, ich muss sie tief in meinem Magen verschlossen halten, darf die Tür zu ihrem Kerker nicht öffnen, das wäre mein Ende. Sie würde mich finden und ich könnte ihr nicht entkommen,

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