Keinmaerchen
Krallen sind begierig, endlich ins Fleisch meiner Feinde zu dringen, endlich in Menschenblut zu baden.
Schon sehe ich den Kabut. Er wabert über den Boden, hüllt das Seelenbecken in seinen unwirklichen Schimmer. Er ist wunderschön. Niemals hätte ich mir ausmalen können, wie blendend er ist, wie viele Farben sich im Weiß des Nebels vereinen, wie viele Töne in ihm gefangen sind. Ich höre die Totenlieder meines Volkes, dumpf dringen sie aus dem Kabut zu mir herauf, doch ich darf nicht unbedacht hineintauchen, sonst bin ich verloren wie die armen Seelen, die er bindet. Ich weiß, was ich zu tun habe. Die Totenbücher liegen in ihrem Schrein. Unscheinbar wirken sie, harmlos und zahm, aber ich kenne ihre Tücken, weiß um die Gefahren, die es mit sich bringt, sie zu öffnen. Warm pulsiert der Einband unter meinen Händen, atmet, flüstert, singt die Namen der Verlorenen, lullt mich ein. Eng beschrieben sind die Seiten, Namen um Namen schlingen sich ineinander wie Efeuranken, gewachsen aus Blut, begossen mit Tränen, sind die Ranken zu starken, beständigen Pflanzen herangewachsen und während meine Blicke über die Gewächse gleiten, wachsen sie weiter und weiter.
Thalos.
Ein einzelnes Blatt inmitten des Gewirrs. Der Schmerz überrollt mich, nimmt mir den Atem, trübt meinen Blick und ich begieße die Namen mit Bitternis. Thalos. Knarrend und wimmernd öffnet sich die Tür zu der Kammer tief in meinem Inneren, hinter der all das verborgen lag, was ich dort sicher verwahrt glaubte. Liebe, Hoffnung, Trauer. Thalos. Ich höre deine Stimme, spüre deine Hände in meinen, rieche den Duft deiner Haut, erhitzt von den letzten Sonnenstrahlen. Ich darf mich nicht hingeben, darf jetzt nicht zögern, sonst ist alles verloren, was mir und meinem Volk geblieben ist.
Zorn, komm und kühle meine Wangen, stärke meinen Arm, kläre meinen Geist, vertreib die Erinnerungen und gib mir die Kraft, das zu tun, was nötig ist. Für Trauer ist später noch Zeit, jetzt ist die Zeit der Rache, des wütenden Feuers und der Stürme.
Ein Schnitt meiner Krallen und das Blut sprudelt aus meinen Adern, benetzt die Seiten, verschmilzt mit den Namen der vergessenen Seelen. Ich spüre, wie sie nach meinem Leben gieren, meiner Kraft, meiner Energie. Nehmt, nehmt was ich zu geben habe, erstarkt an mir und meinem Zorn. Und dann folgt mir in die letzte Schlacht.
Meine Stimme erhebt sich über das Land, dringt ins Seelenbecken und hallt aus dem Nebel wieder, wird zu Donnern und Tosen, singt die Namen meiner Brüder, ruft jeden einzelnen von ihnen an und fordert ihre Hilfe ein.
Und sie folgen meinem Ruf. Bedächtig treten sie aus dem Kabut, spreizen ihre Flügel, recken ihre Glieder, blecken die Zähne, erwachen aus der Starre, in der sie die Zeiten im Seelenbecken überdauern mussten, eingehüllt und gebunden im klebrigen Nebel.
Anaximandros, könntest du ihre Gestalten sehen, du würdest die Augen abwenden vor Scham und Wut. Was ist nur aus ihnen geworden? Ihre Augen blicken leer, das Feuer ist aus ihnen gewichen, ihre Körper sind verdorrt, die Haut brüchig und fahl und der Gestank von Verlorenheit und Resignation dringt aus ihren Poren, nimmt mir den Atem und brennt in den Augen. Sie gieren nach Blut. Nach Leben.
Ist es der richtige Weg, diese armen Kreaturen aus dem Seelenbecken zu befreien, ihnen Lebendigkeit zu schenken, die keine ist? Kann ich sie lenken, ihr Verlangen nach Leben unter Kontrolle halten? Und was wird geschehen, wenn ich sterbe?
Richtig oder falsch, es ist der einzige Weg. Der letzte und entscheidende. Er führt direkt zu den Menschensiedlungen und heißt Rache.
With a bit of a mind flip
You're into the time slip
And nothing can ever be the same.
(The Rocky Horror Picture Show: Time Warp)
Erin
Hör auf damit, du machst ihn kaputt. Gibt ihn mir und nimm ein neues Holzstück. Los, leg ihn in das unterste Regal.
Meine Hände zittern. Ich bin nicht hier. Nicht hier. Nicht.
Er lacht und setzt sich neben meinen Kopf an die Wand. Wo solltest du wohl sonst sein? Du bist hier, du bist immer hier.
Nein, sage ich. Nein. Neinneinnein. Ich war draußen. Ich war im Weiß und dann war ich draußen.
Was redest du denn da? Er huscht über meine Brust und hockt sich auf meinen Arm. Den, in dem ich den Alb halte. Seine Flügel sind klein und zart wie die Flügel eines Falters. Die Angst sitzt in seinen Händen. Ich kann sie spüren, wenn er nach mir schlägt. Sie ist kalt und dunkelblau wie die Nacht über dem Sandmeer.
Du
Weitere Kostenlose Bücher