Kellerwelt
neue
Aufgabe.
Zum Zeitvertreib musterte
sie die Leute. Ihr Blick blieb an einer Frau hängen, die direkt neben der
Eingangstür saß und etwas aß. Die Kleidung der Frau mochte einmal gelb gewesen
sein. Inzwischen hatte sich die Farbe jedoch so gut wie verabschiedet. Eine
Arbeiterin. Und diese Arbeiterin aß Trauben.
Für einen Moment ließ sie
dieser Anblick ihren Auftrag vergessen. Da saß eine Arbeiterin und aß Trauben.
Echte Früchte. Eine Arbeiterin, die nichts anderes tat, als sich um die
Instandhaltung der Siedlung zu kümmern und Material zu sortieren. Sie als
Pfadfinderin hingegen hatte unbekanntes Gelände erforscht. Sie war voran
gegangen und hatte den richtigen Weg gesucht. Sie hatte ihr Leben aufs Spiel
gesetzt, um die letzten Winkel dieser Welt zu erkunden. Und was musste sie
essen? Diese Riegel aus Presspappe. Mit Fairness hatte das nichts mehr zu tun.
Sie spielte mit dem
Gedanken, zu dieser Arbeiterin zu gehen und ihr die Trauben einfach
wegzunehmen. Was hätte die Frau dagegen tun sollen? Doch dann nahm sie ihre
Willenskraft zusammen und löste ihren Blick von den Weintrauben. Sie konnte
diese Frau nicht berauben. Diebstahl wurde mit dem Ausschluss aus der Siedlung
bestraft. Der Chef würde keine Ausnahme machen. Und wenn sie den Gerüchten
Glauben schenken durfte, dann hatte sie auch außerhalb der Siedlung nichts mehr
zu erwarten. Unter vorgehaltener Hand wurde rumort, Diebe und Verbrecher würden
nach ganz unten verbannt, in die Katakomben. Dort würden sie zu Knochenkauern
werden. So wollte sie keinesfalls enden.
Also konzentrierte sie sich
wieder auf den Chef. Der Beschaffer hatte seine Arie offenbar zu Ende geredet,
denn nun sprach der Chef. Dabei schürzte er oft seine Lippen, grinste viel und
vollführte viele Gesten mit offenen Handflächen. „Aber natürlich",
schienen diese Gesten zu sagen, „aber sicher doch. Ich verstehe. Alles klar.
Das können wir so machen." Der Beschaffer hörte wie gebannt zu und nickte
von Zeit zu Zeit. Dann zuckte der Chef mit den Schultern. Sie wusste, nun
reichte er dem Beschaffer die bittere Pille. Und sie wusste, der Beschaffer
würde diese Pille bereitwillig schlucken. Für solche Dinge hatte der Chef ein
Talent.
Schließlich beendeten die
beiden Männer ihr Gespräch. Der Beschaffer stand auf und verbeugte sich
mehrmals leicht vor dem Chef. Dann ging er einige Schritte rückwärts, verbeugte
sich noch einmal und rauschte hinaus. Als er ihren Tisch passierte, hörte sie,
wie er leise vor sich hin murmelte. Sie sah ihm nach. Auch er würde nicht lange
überleben, wenn man ihn in unbekanntes Gebiet schickte. Sie kannte solche
Typen. Sie hatte oft mit ihnen gearbeitet.
Der Chef entdeckte sie und
winkte. Sie stand auf, ging zu seinem Tisch und setzte sich auf den Stuhl, den
der Beschaffer für sie angewärmt hatte.
„ Meine allerbeste
Pfadfinderin." Der Chef grinste und lutschte an seiner Flasche. „Lange
nicht gesehen. Wie kann ich dir helfen?"
So begann der Chef immer. Er
fragte, wie er helfen konnte. Sie fand das sehr geschickt. So kam sich niemand
wie ein Bittsteller oder ein Untergebener vor. Doch nun kam sie besser zur
Sache. Der Chef mochte es nicht, wenn man um den heißen Brei herum redete.
„ Ich habe eine
Aufgabe", sagte sie. „Ich muss weg. Jetzt gleich."
Der Chef zog seine
Augenbrauen in die Höhe. „Du hast einen Auftrag bekommen? Jetzt noch? Das ist
ja mal ganz was Neues. Und wohin soll es gehen?"
„ Zum Loch."
Der Chef senkte seinen Kopf
und sah sie lange an. Dann atmete er tief ein und griff nach seiner Flasche.
„Das gefällt mir aber überhaupt nicht."
Sie zuckte mit den
Schultern. „Mir auch nicht. Da kann ich aber nichts machen."
Er trank einen Schluck und
schüttelte seinen Kopf. „Verlangt auch niemand." Er stellte die Flasche
wieder auf dem Tisch ab. „Wieder eine Rettungsaktion, wie bei diesen anderen
Streunern?"
Sie zuckte erneut mit den
Schultern. Sie wusste es nicht. Doch der Chef hatte bereits seine eigenen Schlüsse
gezogen. „Natürlich wird das eine Rettungsaktion. Sonst gibt es ja nichts
Interessantes beim Loch. Verdammt, dabei hatte ich gerade mit dem Gedanken
gespielt, dich bei den Beschaffern einzusetzen. Die Beschaffer grasen einfach
nur alles ab, aber du könntest die wirklich interessanten Räume finden, in
denen richtig gutes Zeug liegt."
Sie sah den Chef an.
„Ehrlich? Du würdest mich mit den Beschaffern gehen lassen?" Der Gedanke
brachte sie schier aus dem Häuschen. Endlich hatte die
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