Kells Legende: Roman (German Edition)
draußen laufen genug Feinde herum, um deinen Blutdurst für ein ganzes Jahrhundert zu stillen. Also lass uns einfach diesen netten Schinken rösten, den die Dorfbewohner mitgebracht haben, ein paar Kartoffeln kochen und ein bisschen zivilisierte Gesellschaft genießen.«
»Ich sehe kurz nach den Pferden«, sagte Saark und verließ die Hütte. Ein Schwall kalter Luft begleitete seinen Abgang.
Myriam schüttelte sich und begann zu husten. Es war ein harter, kräftiger Husten, und Kell sah zu, wie sich die beiden Männer fast rührend um die Frau kümmerten, trotz ihres abgerissenen Äußeren. Myriam hustete noch eine Weile weiter, und Kell glaubte zu sehen, wie sie Blut ausspie. Erneut betrachtete er ihr hageres Gesicht, die eingefallenen Augen und die Form ihres Schädels unter der pergamentenen Haut. Er hatte solche Anzeichen schon häufiger gesehen, und zwar bei Männern und Frauen, die an Krebs litten. Er hätte darauf gewettet, dass Myriam dem Tod ziemlich nahe war. Das erfüllte ihn auf unheimliche Weise mit dem Gedanken an seine eigene Sterblichkeit.
Ich habe lieber einen Feind, den ich mit meiner Axt bekämpfen kann, dachte er gereizt, als irgendeinen hinterlistigen kleinen Mistkerl, der tief in mir wächst. Kells Augen brannten. Er hatte Mitgefühl mit der Frau. Niemand sollte so sterben.
Er stand auf, goss Wasser in einen Zinnbecher und brachte ihn Myriam. Sie trank und lächelte ihm dankbar zu. Trotz ihrer Schmerzen, ihrer hageren Gesichtszüge und dem grob gestutzten Haar sah Kell Spuren von ihrer einstigen Schönheit. Sie musste irgendwann einmal wunderschön gewesen sein. Aber es war nicht nur der Krebs, der an ihr genagt hatte; was an Schönheit übrig geblieben war, hatte ihre Verbitterung und ein weltenmüder Zynismus ausradiert.
»Du solltest dich dichter ans Feuer setzen.«
»Sie sitzt genau da, wo sie will«, schnarrte Jex. Seine Stimme hatte einen stark östlichen Akzent.
»Ganz wie du meinst.«
»Warte«, sagte Myriam und sah Kell an. »Kann ich mit dir reden?«
»Du redest mit mir.«
»Ich meine, unter vier Augen.«
»So etwas wie Privatsphäre gibt es hier nicht.« Er lächelte kalt.
»Draußen, im Schnee.«
»Wenn du willst.«
Sie verließen die Schutzhütte, und ihre Stiefel knirschten im Schnee, als Kell Myriam ein Stück in den Wald folgte, bis sie schließlich stehen blieb, sich an einen Baum lehnte und keuchte. Sie betrachtete den fallenden Schnee, drehte sich herum und lächelte Kell an. »Es ist die Kälte. Meine Lungen vertragen sie nicht.«
»Ich dachte, es würde am Krebs liegen.«
»Das auch. Am meisten schmerzt mich das, was ich nicht mehr tun kann. Handlungen, die ich einmal ohne jede Mühe verrichtet habe. Wie zum Beispiel, zu laufen. Bei den Göttern! Ich konnte einmal rennen wie der Wind, den ganzen Tag lang, die Berge hoch und runter. Nichts konnte mich aufhalten. Jetzt kann ich mich glücklich schätzen, wenn ich es rechtzeitig auf den Abtritt schaffe.«
»Du wolltest dich mit mir unterhalten?« Kell starrte sie an, und plötzlich hatte er das Gefühl, sie wiederzuerkennen. Er beugte sich vor, aber sie wich vor ihm zurück. »Kenne ich dich?«, fragte er schließlich, während eine schwache Erinnerung an ihm nagte.
»Nein. Aber ich kenne dich. Die Saga von Kells Legende, eine Geschichte, die einen zugleich verängstigt und inspiriert. Eine Geschichte, die Helden und Soldaten hervorbringt und den Kleinen nicht einmal die Sicherheit des Kaminfeuers lässt.« Sie lachte, aber Kell lachte nicht. »Hier in dieser Gegend bist du ein Held.«
»In den Augen einiger, stimmt.« Er seufzte und lehnte sich an eine Kiefer. Der Wind heulte traurig durch die Bäume, sang sein leises, einsames Lied. Irgendwo schrie eine Eule. »Was bedeutet es dir?«
»Ich habe nur … ich habe Geschichten von dir gehört. Von meinem Vater. Als ich noch ein Kind war.«
»Ein Kind?«, erwiderte Kell ungläubig. »Wie alt bist du denn, Mädchen?«
»Neunundzwanzig Winter, mehr oder weniger.« Sie errötete. »Ich weiß, ich sehe viel älter aus. Das liegt daran, dass ich sterbe, Kell. Und … ich weiß auch etwas von deiner Vergangenheit. Ich kenne etwas von deiner Geschichte.«
»Ach ja?« Kell klang nicht gerade begeistert.
»Du könntest mir helfen.«
»Ich bin beschäftigt. Es gibt da gerade eine Invasion in unser Land, oder ist dir das bisher entgangen?«
»Du könntest mich vor dem Tod retten«, sagte sie und sah ihn flehentlich an. »Du hast den Weg durch das
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