Kells Legende: Roman (German Edition)
unterhalb des Bergmassivs zu kartographieren. Doch dann war etwas Eigenartiges mit den religiöseren Vachine, den so genannten Bo-adesh , geschehen. Gelegentlich bewegten sich die Tunnel, veränderten sich, verschoben ihre Position innerhalb der Infrastruktur dieser Berggewölbe. Manche sagten, es läge an der Blutöl-Magie, andere behaupteten, das Schwarzspitz-Massiv wäre lebendig, würde schon länger existieren als die Menschheit und das Anderssein und das Eindringen der Vachine verachten. Wie dem auch sei, viele dieser unterirdischen Routen waren jedenfalls kartographiert und wurden als Reisewege benutzt, die man mit langen Messingbarken befuhr. Manchmal nutzte man sie sogar, um damit andere, fernere Täler zu erreichen; etliche Tunnel jedoch waren verboten. Sie waren gefährlich und bedeuteten für jene, die durch sie reisten, den Tod …
In jenen frühen Tagen der Erforschung hatte man viele Opfer der Deshi-Höhlen zu beklagen. Anukis erinnerte sich an lange, kalte Abende, an denen sie auf den Knien ihres Vaters gesessen und in die tanzenden Flammen gestarrt hatte, während er einige seiner Reisen schilderte. Er beschrieb, wie sie Blutöl-Zeichen auf den Steinen angebracht hatten, redete von Tauen unter Wasser, von magischen Feuern, die Licht spendeten. Und dennoch waren viele gestorben; Hunderte hatten sich verirrt, waren ertrunken oder einfach nur spurlos verschwunden. Manchmal tauchte aus einem nebligen Morgen eine leere Messingbarke auf, auf der eine Glocke einsam bimmelte. Sie war leer, und kein Zeichen eines Kampfes war zu sehen. Kradek-ka war der Meinung gewesen, dass unter dem Schwarzspitz-Massiv schreckliche Bestien hausten; Kreaturen, die noch keiner je erblickt hatte … oder jedenfalls keiner, der diese Begegnung überlebt und anschließend hätte davon berichten können.
Anukis erschauerte – nicht nur wegen der Kälte.
An einer Kreuzung blieb sie stehen und wich in den Schatten zurück, brachte sich vor dem Lichtkegel einer schwankenden Messinglampe in Sicherheit. Zwei Wachposten kamen an ihr vorbei und blieben unter dem gelben Lichtschein stehen. Sie entzündeten ihre langen Pfeifen und plauderten freundschaftlich miteinander. Anukis beobachtete sie sorgfältig; diese Männer waren keine echten Ingenieurdekane; sie wiesen weder die rasierten Köpfe noch die Gesichtstätowierungen der Königlichen auf, aber sie waren verdammt nah. Und sie hatten ganz gewiss das Recht, Anukis nach Ablauf der Sperrstunde zu töten. Sie lächelte, ein Lächeln, das ihr blutleeres Gesicht wie ein Halbmond teilte. Und welchen Grund gab es für dieses Ausgehverbot?
Den Vachine ging das Blutöl aus.
Die Vachine hatten bereits sämtliches Vieh ausgeblutet …
Welch eine Ironie!
Die Wächter gingen weiter, und auch Anukis setzte ihren Weg fort. Sie sprang über die Straße und tauchte erneut in der Dunkelheit unter. Immer weiter ging sie hinab, zum Fluss, den Mantel fest um sich gezogen, während ihr Atem in kurzen Stößen wie Drachenrauch aus ihrem Mund kam.
Sie bog um eine Ecke, und da lag der Silva vor ihr; gewaltig, breit und so glatt und ruhig wie eine Glasfläche lag er im Silvatal. Der steile Hang vor ihr war von Gebäuden gesäumt, die bis zum schwarzen Ufer des Flusses reichten. Anukis eilte weiter, lief durch schmale Gassen in dieser riesigen, wunderschönen Stadt, über gefährliche Wege. Dreimal erblickte sie Diebe, bevor sie entdeckt werden konnte, und wich ihnen in einem großen Bogen aus. Obwohl sie keine Waffe benötigt hätte, um mit solchen Leuten fertig zu werden. Sie waren Ausgestoßene. Unreine …
So wie ich.
Doch abgesehen von dieser Einschränkung war sie … etwas Besonderes.
Dafür hatte ihr Vater ebenfalls gesorgt.
Anukis erreichte die lange Pier der Messingdocks und blieb ein paar Meter vom Wasser entfernt stehen. Sie lauschte dem Plätschern des Wassers gegen die messingnen Duckdalben, wartete geduldig und versuchte weitere Wachen zu lokalisieren; schließlich ging sie über einen breiten, geschwungenen Weg, welcher der halbmondförmigen Biegung des Silva in Richtung der … Schwarzspitzen folgte. Und zum Schlund, aus dem sich das eiskalte, reine, mineralreiche Wasser mit einem gewaltigen Rauschen aus den Höhlen unter den Bergen ergoss. Sie spürte den Odem , noch bevor sie die bedrohliche Quelle des Flusses erblickte; er fauchte aus dem Gestein, zischend und manchmal auch singend, und besprühte all jene, die im Umkreis von fünfhundert Metern standen, mit kühler,
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