Kells Legende: Roman (German Edition)
die granitenen Gehwege. Anukis lauschte; ihr perfektes Gehör ermöglichte ihr, den genauen Standort der Wachen unten am Eingang des Turms zu orten. Sie hörte deren gedämpfte Unterhaltung, das Knistern einer Pfeife, das Gelächter über einen derben Witz. Anukis zog ihren knöchellangen, schwarzen Mantel an, gürtete ihre Taille und setzte die Kapuze auf, um ihr goldblondes Haar und ihre bleichen Gesichtszüge zu verbergen.
Dann trat sie zu einer schweren Kommode neben der Tür, hob sie mühelos hoch, trug sie über den dicken Teppich und klemmte sie unter den Türgriff. Dann trat sie wieder ans Fenster zurück und sah zu, wie die schwachen, roten Strahlen der Sonne, die wie gespreizte Finger aussahen, über den schroffen Wipfeln des Schwarzspitz-Massivs erloschen. Schließlich sprang sie auf die Fensterbank und öffnete den Riegel.
Ein eisiger Wind peitschte in den Raum. Anukis kletterte hinaus, fand schmale Griffmulden in dem Marmor und dem Gestein und hangelte sich behutsam über den gähnenden Abgrund. »Nicht hinuntersehen«, murmelte sie, konnte ihre Neugier aber nicht bezwingen. Es war ein tiefer Sturz auf harte, von Messingrädern glatt geschliffene Granitblöcke. Anukis schob sich über einen schmalen Spalt, bewegte immer nur eine Hand oder einen Stiefel, so dass sie immer mit drei Gliedern den Kontakt zur Wand behielt. Der Wind schnappte mit seinen scharfen Zähnen nach ihr. Nachdem sie das erleuchtete Fenster zurückgelassen hatte, spürte sie die Dunkelheit, als wäre es geschmolzener Samt. Anukis fühlte sich vollkommen isoliert und allein.
Einige gefährliche Minuten lang schob sie sich um die Flanke des Turms herum, zu der Stelle, an der sie eine ausgegrabene, vertikale Rille entdeckt hatte. Über ihr bildeten die Fliesen einen Giebel aus Marmor, der vermutlich vor mehr als hundert Jahren ein Leck bekommen hatte. Dadurch hatte das Regenwasser einen Spalt in der Marmorfassade auswaschen können und somit etwas tiefere Ritzen erodiert, die fast wie Stufen waren, über die Anukis mehrere Stockwerke hinab zu einem schrägen Schieferdach klettern konnte.
Etliche Male wäre sie beinahe abgeglitten; einmal verlor sie tatsächlich den Halt und schwang von der Wand weg. Ihre Stiefel kratzten hektisch über den Marmor, während ihr der Schweiß in den Augen brannte. Sie spürte, wie ein Fingernagel abbrach, doch kontrollierte sie rasch ihre Atmung, hörte auf, voller Panik um sich zu treten, und zog sich mit blutenden Fingerspitzen wieder hoch, bis sie festen Halt gefunden und damit ihr Leben gerettet hatte.
Jetzt stieg sie langsam, Zentimeter um Zentimeter hinab, während der Wind mit höhnischem Gelächter an ihr zu rupfen schien.
Unter ihr breitete sich Silvatal aus. Einige Viertel waren ausgezeichnet erleuchtet, andere dagegen wirkten wie dunkle, einschüchternde Flecken. Trotz der Herrschaft der Uhrwerker war nicht jeder Vachine gleich dem anderen; es existierte eine komplexe, religiöse Hierarchie, in der sich dennoch Widerstand regte, was manchmal sogar zu Mord und zivilem Ungehorsam führte. Beides wurde hart bestraft: mit dem Tod.
Anukis landete leichtfüßig auf den Ziegeln und ging in die Hocke. Sie ließ ihren Blick schweifen, während in ihren Augen das Gold wirbelte, und schon bald hatte sie die patrouillierenden Ingenieurdiakone und ihre Büttel gefunden und beobachtete sie, wie sie sie auch schon von ihrem kleinen Fenster aus beobachtet hatte. Vorsichtig glitt sie über die Schieferziegel, während sie ihrer sorgfältig ausgearbeiteten Route folgte. Sie ließ sich auf einen Balkon im zweiten Stock sinken, wobei sie einen Blumentopf umstieß, der auf dem Boden zerbarst. Hastig kletterte sie über das Geländer und ließ sich auf den Balkon darunter fallen, während über ihr Licht aufflammte und eine Stimme wütend den Wind verfluchte.
Schließlich landete Anukis auf der glatten Granitstraße und ordnete ihre Kleidung. Sie zog ihre Kapuze fester um den Kopf und eilte die dunkle Straße entlang, die sich in Kurven zu den Messingdocks hinunterschlängelte.
Silvatal war eben das, ein Tal; aber in seinem zergliederten Herzen lag der Fluss Silva, der einem komplexen Labyrinth von Höhlen und einem gewaltigen, unterirdischen Tunnelsystem unterhalb des Schwarzspitz-Massivs entsprang, die den Namen Deshi-Höhlen trugen. Anukis’ Vater Kradek-ka hatte in seiner Jugend diese Tunnel sehr genau erforscht und war Mitglied etlicher Expeditionen der Vachine gewesen, die zum Ziel hatten, das Labyrinth
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