Kells Rache: Roman (German Edition)
Rückgrat des Vachine-Imperiums. Er hatte die Blutraffinerien erfunden. Er würde die Vachine retten. Er würde ihr Reich vergrößern. Er war unsterblich. Er würde sich um Anukis kümmern, für immer.
Sie reisten weiter. Manchmal kamen sie durch riesige Höhlen, durchquerten sie hoch oben auf schmalen, steinernen Passagen, die mit goldenen Drähten gesichert waren, an denen man sich festhalten konnte, damit man nicht in die Tiefe stürzte. Der weiße Boden unter ihnen wirkte weich und pulsierte in einem internen weißen Licht. Dort versammelten sich Schnitter und blickten zu ihnen hinauf; es waren Tausende und Abertausende. Manchmal beobachteten sie die Eindringlinge, denn genauso fühlte sich Anukis, als Eindringling. Sie gingen dicht unter den gewaltigen Decken der Höhle entlang. Dann wiederum hoben die Schnitter ihre Hände mit den langen Knochenfingern, und Anukis wusste nicht, ob es ein Gruß war oder eine Verwünschung.
Als sie die vierte oder fünfte Höhle durchquerten, in denen sich erneut Tausende dieser stummen Schnitter aufhielten, drehte sich Anukis zu ihrem Vater herum. »Es sind so viele«, sagte sie. Ihr Gesicht war aschfahl, sie spürte einen seltsamen Schmerz in ihrer Brust, tief unten in ihrem Uhrwerk.
»Ja. Niemand aus dem Silvatal, kein Ingenieur, kein Uhrwerker, nicht einmal das Hohe Episkopat hat diese Hallen jemals zu Gesicht bekommen. Es sind Heilige Orte, und wir können uns wahrhaft glücklich schätzen, dass wir sie ungehindert passieren dürfen. Normalerweise würden sich Tausende von ihnen auf uns stürzen, und wir wären in wenigen Augenblicken nur noch leere Hüllen.«
»Aber warum erlauben sie uns überhaupt die Passage?«
»Weil wir etwas Wichtiges zu erledigen haben«, erwiderte Kradek-ka lächelnd. »Etwas, wovon auch sie ungeheuer profitieren werden.«
»Was haben wir denn zu erledigen?« Anukis’ Gesicht war ein bisschen schlaff. Die Wirkung der Droge ließ nach, und der Schmerz in ihrem Uhrwerk verstärkte sich. Es ist so merkwürdig, dachte sie, so seltsam, dass ich den Honiglikör jetzt immer öfter brauche. Sie dachte an die Vergangenheit; hatte sie immer diesen Honiglikör benötigt? Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie ihn vorher genommen hatte, als sie noch eine freie Vachine in Silvatal gewesen war … Andererseits jedoch war ihr ganzes früheres Leben ein wenig verschwommen und ein bisschen verdreht. Sie ließ die Erinnerungen fahren, ließ sie sich entgleiten, als erneut Honiglikör ihre Kehle hinabrann, in ihre Adern drang und sie wieder Frieden empfand.
Kradek-ka tätschelte ihre Hand. »Mach dir darüber keine Gedanken, süße, kleine Anu. Du wirst schon sehen. Am Ende wird alles gut, das verspreche ich dir.«
Anukis nickte, und dann erreichten sie eine Schlafkammer. Sie schlief.
Anukis saß an einem weißen Ort. Die Bäume blendeten sie, ihre weißen und silbernen Blätter schimmerten. Wasser plätscherte in der Nähe, weißes Wasser in einem Flussbett aus weißen Felsen. Es war mit natürlicher Musik gefüllt. Es beruhigte sie.
Sie blickte hinab. Sie saß auf elastischem weißem Heidekraut, ein Bein unter ihren Körper gezogen. Sie war nackt bis auf die Male unter ihrer Haut: die dunklen Abdrücke des Uhrwerks. Sie zog eine Grimasse beim Gedanken an die Mechaniken. Anukis fuhr ihre Vampir-Reißzähne aus und ein, genoss die gleitende, geschmeidige Bewegung. Ja. Kradek-ka hatte sie gut geschaffen.
Anukis sah sich bedächtig um, schläfrig. Die Welt war ein seltsamer Ort, und ihre Gedanken hatten keine Verbindung zueinander. Ihre Erinnerungen waren verschwommen und verdreht, hallten in ihrem Kopf wie ein seltsamer Traum. Es hätten tausend Jahre sein können oder auch nur der Bruchteil einer Sekunde. Zeit schien nicht zu existieren, hier, an diesem Ort.
Dann hörte Anukis ein Geräusch, und durch den weißen Wald schritt eine Frau. Sie war groß, nackt und hinreißend schön. Ihr langes Haar schimmerte in dem diamantenen Licht. Sie lächelte, als sie Anukis sah, die vor plötzlicher Furcht zusammenzuckte …
Die Frau war Shabis. Aber Shabis war tot!
»Ich habe dich getötet, Schwester«, sagte sie fast unhörbar leise und senkte vor Scham den Blick.
»Nein. Vashell hat mich getötet«, erwiderte Shabis. Sie umarmte Anukis, küsste ihre Wangen und ihre Lippen. »Du hast versucht, mich zu warnen. Aber ich wollte nicht hören. Ich hätte auf dich hören sollen, Schwester.« Tränen schimmerten in ihren Augen. »Ich war trunken von seiner Liebe wie
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