Kells Rache: Roman (German Edition)
vom Wein. Ich war süchtig nach seinen Lügen, wie ich süchtig nach dem Blutöl unserer verdorbenen Gesellschaft war.«
»Vater wird es wiedergutmachen.«
»Hör nicht auf ihn!« Die Wut, die plötzlich in Shabis’ Augen aufblitzte, schockierte Anukis, und sie wich unwillkürlich zurück. Ihre Hände versanken im weichen Moos. Die Wildheit ihrer Schwester, die plötzliche Veränderung in ihr erschreckte sie.
» Warum nicht?«, fragte Anukis trotz ihres Schrecks lieb evoll.
»Darum! Er ist ein Lügner. Alles, was er getan hat, hat er aus rein egoistischen Motiven getan. Wir haben in seiner Gleichung niemals eine Rolle gespielt; das weiß ich jetzt. Ich sehe es ganz klar. Ich verstehe Kradek-ka, wie ich keine andere Person verstehe. Er ist böse, und er wird unsere Vachine-Zivilisation vernichten.«
»Nein, er wird sie wieder stark machen! Er liebt die Vachine, er begegnet dem Episkopat und Silvatal nur mit größter Ehrerbietung.« Aber Anukis fühlte sich plötzlich hohl, als wäre sie von einer gigantischen Kralle ausgekratzt worden. Irgendwie erkannte sie die Wahrheit in Shabis’ Worten. Irgendwie durchblickte sie die Lügen, die sie umgaben.
»Du irrst dich, Anu«, widersprach Shabis. »Wir waren immer seine Werkzeuge, seine Waffen. Nur war ich die entbehrliche. Er hat Vashell benutzt, hat ihn manipuliert, damit er dich hierhertrieb.«
»Wo ist hier ?«
»Du bist in der Höhle der Schnitter. Sie sind etwas Künstliches, so etwas wie eine Maschine, wie ein Uhrwerkmechanismus. Sie wurden von den Kriegsfürsten der Vampire erschaffen … und sie schufen sie aus nur einem einzigen Grund.«
»Und der wäre?«
»Um Blut zu sammeln. Gewiss, jetzt helfen sie den Vachine, verwandeln das Blut in Blutöl; aber das dient nur dem Zweck, den Traum am Leben zu halten, damit die Maschine ungehindert weiterarbeitet. Du wirst selbst sehen, mit welcher Macht sie sich schließlich gegen uns wenden. Sie werden die Vachine angreifen, Anukis. Und Kradek-ka führt sie an.«
Anukis runzelte die Stirn. »Vor noch gar nicht allzu langer Zeit wurde ich von meinem eigenen Volk ausgestoßen. Die Vachine von Silvatal haben mich gedemütigt und mich zum Tode verurteilt. Ich bin mit Vashell geflüchtet, um unseren Vater aufzusuchen. Er wurde von den Schnittern gefangen genommen. Ich habe geschworen, ich würde mich an den Vachine rächen, denn ich habe noch nie zuvor solche Schmerzen erlebt. Also wirklich, wenn Kradek-ka die Vachine vernichten würde … doch nein, all das ist viel zu verwirrend. Es ist alles vollkommen verrückt!«
»Die Vachine sind deine Rasse, dein Volk«, sagte Shabis sanft. »Du kannst keine ganze Rasse wegen etwas vernichten, was sie dir angetan haben. Genozid ist nicht der richtige Weg, ganz gleich, als wie unheilig du auch den Feind wahrnimmst, Anukis. Unser Vater hat vor, die Vachine zu vernichten. Ausnahmslos alle. Und das schließt dich mit ein.«
»Jetzt bist du albern. Vater würde mir niemals etwas tun.«
»Noch nicht. Weil er dich braucht. Aber die Zeit wird kommen.« Die Szenerie um Anukis verblasste, und sie schluckte. Ihr Mund war trocken vor Furcht. Sie wurde von der ätherischen Ebene weggezerrt, weg von der hellen, glänzenden Sphäre, die Shabis bewohnte. Und sie hatte keinerlei Kontrolle. Überhaupt keine Kontrolle.
»Er braucht mich?«, fragte sie rasch, als die Lethargie einen Augenblick von ihr abfiel. »Wieso und wofür braucht er mich?«
»Frag ihn nach den Seelengemmen«, flüsterte Shabis, während sie verblasste und schließlich verschwand.
Anukis erwachte. Die Wände um sie herum pulsierten weiß. Kradek-ka beobachtete sie. Er lächelte, aber seine Augen wa ren dunkel, und seine Reißzähne schimmerten golden. Kradek-ka war ein Vachine. Und doch, als Anukis jetzt darüber nachdachte … Sie hatte noch nie gesehen, dass er Blutöl genommen hätte, kein einziges Mal. Und als sie für unheilig erklärt wurde, hatte er nicht nur von Karakan-Rot gewusst oder den Schwarzlipplern … er hatte sogar Preyshan, ihren König, gekannt.
»Erzähl mir etwas über die Seelengemmen«, sagte Anukis und befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge.
Ein Schatten huschte über Kradek-kas Gesicht, aber er verschwand rasch. Dann lächelte der Uhrwerker heiter. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Die Seelengemmen. Wofür brauchst du mich, Vater? Wohin gehen wir?«
»Wir feiern ein heiliges Ritual. Zu Ehren der Schnitter. Wir danken ihnen, dass sie den Vachine mit Blutöl aushelfen; wir feiern, dass
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