Kells Rache: Roman (German Edition)
durch seinen Kopf. Es waren die Tage des Blutes … und er hieß sie willkommen …
Er steht da, mit hervortretenden Muskeln, angespannt, als wäre er vollgepumpt mit Drogen und Mordlust. Sein Hirn schmerzt, und seine Gedanken taumeln chaotisch durch seinen Schädel. Er hebt Ilanna; sie singt, sie singt ein hohes, wunderschönes Lied. Nur kann dieses Mal, dieses Mal, die ganze Welt ihr Schlaflied hören. Die Menschen, die über die Straße rennen, auf der Flucht vor dem Wahnsinn der Armee, bleiben stehen, drehen sich herum, lauschen der erstaunlich ätherischen Stimme von Ilanna, deren perfekte, hypnotische Töne das Feuer, den Rauch und das Lärmen des Gemetzels durchdringen. Die Flüchtlinge halten inne, und Kell drängt sich zwischen sie, während Ilanna in großen Schwüngen rechts und links alles niedermetzelt. Sie fliehen nicht, und sie wehren sich nicht, sondern stehen einfach nur da und starren diese blutüberströmte Gestalt an. Sie sehen Kells Wut, seinen Zorn und seinen Wahnsinn, während er Ilanna mit ökonomischer Präzision nach rechts und links schwingt. Die Augen der Menschen erstrahlen in Liebe, Liebe zu Ilannas Lied, und sie heißen den Tod willkommen. Ihr Blut nährt die Schmetterlingsklingen, und als sie alle tot sind, in Stücken auf den schlammigen Pflastersteinen liegen, sinkt auch Kell zwischen den massakrierten Leichen der Männer, Frauen und Kinder auf die Knie. Er weint, seine Tränen laufen ihm übers Gesicht, ziehen Furchen in die Maske des Blutes, und er schleudert Ilanna von sich. »Was habe ich getan?«, schreit er. In dem Moment weiß er, dass er verflucht ist, dass er böse ist, dass er zwar versucht, gut, gerecht und ehrenwert zu sein, dass er jedoch in seinem tiefen Inneren einfach nur ein abgrundtief schlechter Mensch ist …
Kell blinzelte.
Der Canker hatte ihn erreicht. Seine Reißzähne waren nur einen Zentimeter von seiner Kehle entfernt. Er blickte dem Biest in seine wahnsinnigen blutroten Augen. Dann schob er Ilanna zwischen sie, riss die Axt hoch und nach vorn, und die Klingen bohrten ein riesiges Loch in die mächtige Brust der Bestie. Kell stand da, mit gespreizten Beinen und zusammengebissenen Zähnen, stark und machtvoll, während der aufgespießte Canker am Ende seiner Axt zappelte. Dann traten die Muskeln an Kells Nacken, den Armen, den Schultern sowie seiner Brust hervor, und sein Gesicht lief vor Anstrengung rot an. Er hob den um sich tretenden, kreischenden Canker hoch in die Luft und hielt ihn einen Moment in dieser Haltung fest. Er spürte, wie eine wundersame Macht ihn durchströmte, spürte Kraft und ein göttergleiches Kribbeln in seinem Körper, wie ein göttlicher Orgasmus. Ilanna begann erneut zu singen, und der Canker trat um sich, wie ein blöder Käfer. Kell riss einmal an der Axt, und die Klingen fraßen sich noch tiefer in die gewaltige Bestie, die fast zweimal so groß war wie er. Der große Pferdekopf flog nach rechts und links, die Zähne der Bestie mahlten auf unsichtbaren Knochen. Erneut stieß Kell zu. Die Klingen bohrten sich jetzt so tief in den Canker, dass sein zähes Blut herausströmte, über Kells Kopf und Oberkörper lief und ihn total vollsaute. Mit einem letzten Stoß durchtrennte Ilanna schließlich das Rückgrat des Canker. Die Bestie rührte sich plötzlich nicht mehr, hing schlaff am Ende der Axt. Dann riss Kell mit einem lauten Schrei Ilanna zur Seite, wobei er den Körper des sterbenden Canker fast in zwei Stücke teilte, die feucht klatschend aneinanderschlugen, wie das tote Fleisch eines Schlachtviehs. Blutige Teile des Uhrwerkmechanismus flogen durch die Luft und segelten klappernd die Bergflanke hinab. Die messingfarbenen, blutüberströmten Zahnräder und Kolben arbeiteten immer noch. Als sich der Nebel teilte, hob Kell Ilanna hoch in die Luft, mit einer Hand. Die Seelenfresser starrten ihn an, und er grinste, grinste unter der Maske von Canker-Blut, und Ilanna sang erneut. Sie sang ein hohes, wundervolles Lied, das laut über Berge und Täler hallte, über Schneefelder und gefrorene Seen glitt. Es war ein langes, unheimliches und trauriges Lied, ein Lied von Massaker und Tod. Und während sie sang, standen die Seelenfresser da, lange und regungslos und lauschten, während der tote Canker langsam vom Wolfsgrat rutschte und im Abgrund verschwand. Schließlich ließ Kell Ilanna sinken. Die Seelenfresser drehten sich um und verschwanden in dem wirbelnden, weißen Dunst.
»Großvater!« Niennas Schrei hallte über die Berge.
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