Kells Rache: Roman (German Edition)
nicht etikettierte Whiskyflasche tief unten im Korb auf Marys Rücken.
Es kostete nur Momente, die Flasche zu holen und sich dann wieder in die trügerische Wärme seines Umhangs zurückzuziehen. Der Wind heulte unheimlich durch die Bäume. Kell zog den Korken mit den Zähnen heraus, und der säuerliche Gestank von billigem, widerlichem Whisky stieg ihm in die Nase. Es kümmerte ihn nicht. Er atmete den Duft ein wie den Rauch von Drogen. Er genoss die grobe, ölige Konsistenz, die schließen ließ, dass da ein Amateur am Werk gewesen war. Diesen Schnaps hatten zweifellos unerfahrene Bauern destilliert. Mit diesem Whisky konnte Kell sich identifizieren. Er war so anders als das mit Honig versüßte Gesöff, das die Aristokratie in Saarks Kreisen genoss. Das hier war Feuerwasser. Kell trank.
Er trank mehrere Schlucke, und der Whisky brannte höllisch in seiner Kehle.
Nach ein paar weiteren Schlucken breitete sich ein Nebel über seinem Verstand aus.
Der Schmerz des Giftes ebbte ab.
Kell schlief, die Whiskyflasche wie ein kleines Kind an den Körper gedrückt.
Der Mond stand hoch in dem kalten, kristallklaren Himmel. Nienna saß da, eingehüllt in Decken, und lauschte dem leisen Schnarchen von Myriam, die neben ihr lag. Die Frau drehte sich im Schlaf herum und streckte ihre langen Beine aus. Einen Moment lang, einen flüchtigen Moment lang, überlegte Nienna, ob sie weglaufen sollte. Sie hatte es bereits zweimal versucht; beim zweiten Mal hatte Myriam sie erwischt und ihr erklärt, nachdrücklich, unter Zuhilfenahme ihres Handrückens, was sie tun würde, wenn Nienna noch einmal einen Fluchtversuch unternahm. Jetzt schlief Nienna mit gebundenen Knöcheln. Der Strick war so fest um ihre Füße gebunden, dass sie morgen früh blau sein würden. Außerdem hatte sie gesehen, wie Myriam ihren Bogen bediente. Sie war eine tödliche, sehr gefährliche junge Frau … die selbst über eine große Entfernung töten konnte. Nienna schüttelte sich vor Entsetzen bei dem Gedanken.
Dann fiel sie in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie immer wieder aufschreckte, wie immer, seit sie entführt worden war. Entführung. Ein so einfaches Wort, und doch bezeichnete es ein Leben in der Hölle, Tag um Tag. Sie war erst auf dem Sattel vor Styx, dann vor Jex geritten. Die beiden Männer tauschten ihre Last, um die Pferde nicht durch das zusätzliche Gewicht über Gebühr zu ermüden. Sie waren nach Norden geritten, schnell, da Myriam fürchtete, dass Kell sich sofort an ihre Verfolgung machen, sie jagen würde. Doch Nienna wusste, dass Saark nicht in der Lage sein würde, ihnen zu folgen. Sie hatte zugesehen, wie er zusammengeschlagen und dann mit einem langen, scharfen Dolch durchbohrt worden war. Nienna glaubte selbst jetzt noch, dass Saark längst tot war. Sie schüttelte sich erneut, halb im Schlaf, als sie sich noch einmal wie in ihren Albträumen diese Prügel ausmalte, jedes Knacken hörte, jeden Schlag. Selbst jetzt noch sah sie ganz bildlich vor sich, wie die Klinge in sein Fleisch drang, und dachte: Nein, das kann nicht sein, das kann nicht passieren, das kann nicht wahr sein. Aber aus der Wunde strömte Saarks Blut, und es war nur allzu wahr. Dann war Myriam zu ihnen gekommen, und sie waren davongeritten, in den Schnee, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Nienna dachte jetzt zurück. Dachte an Kat. Katrina. Ihre Freundin. Die jetzt tot war. Sie war eine Leiche, die in der kalten Schlafbaracke verfaulte, wo Styx sie mit seinem Witwenmacher an die Wand genagelt hatte. Nienna dachte an diese Waffe. Sie dachte viel darüber nach. Mit einer solchen Waffe könnte sie ihre Chancen ausgleichen, obwohl sie dünn war, körperlich schwach und ein Langschwert kaum heben konnte. Mit einem Witwenmacher konnte sie ein Loch in Styx’ Gesicht schießen und in den Wald flüchten …
Nein. Wenn sie erfolgreich fliehen wollte, musste sie alle drei töten.
Aber Kell! Kell würde kommen und sie retten! Das würde er doch?
Vielleicht ist Kell schon tot, meldete sich eine dunkle Stimme in ihrer Seele. Er ist mit König Leanoric in die Schlacht gezogen, gegen die Albino-Armee. Vielleicht war er längst irgendein Leichnam auf dem Schlachtfeld, dessen Augen von Kühen gefressen wurden und an dessen Eingeweiden Ratten knabberten. Sie schüttelte sich und knirschte mit den Zähnen. Nein! Kell lebte. Sie wusste es. Sie wusste es ganz tief in ihrem Herzen.
Und wenn Kell lebte, würde er nach ihr suchen.
Nienna schlief ein. Die Kälte biss ihr in die
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