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Kelwitts Stern

Kelwitts Stern

Titel: Kelwitts Stern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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fällig?«
    Thomas seufzte. »Von wegen. Elke hat Dienst. Ganz tollen. An Silvester Spätschicht bis halb neun, und an Neujahr Frühschicht ab sechs.« Er hörte Schlüsselgeklapper an der Wohnungstür. »Sie kommt grade heim.«
    »Das ist ja gemein. Wie wollt ihr dann das neue Jahrtausend begrüßen?«
    »Wir werden tief und fest schlafen. Das ist so in dem Beruf – wer an Weihnachten freihaben will, muss an Silvester arbeiten, und umgekehrt. Und als Schüler kann man sich’s nicht mal aussuchen.« Er hörte sie ihre Tasche in die Ecke pfeffern. Dann rummste die Klotür.
    Rainer schwenkte abrupt zurück auf sein eigentliches Anliegen. »Ich habe diesem George Bell noch mal gemailt und noch ein paar Details erfahren. Also, seine Frau heißt Eva-Maria und hieß früher Schulze. Allerdings wusste er nicht, ob das ihr Geburtsname ist oder der ihres ersten Mannes.«
    »Schulze? Na, das ist ja mal ein ungewöhnlicher Name. Das hilft mir bestimmt weiter«, meinte Thomas missgelaunt. Elke war in ihrem Zimmer verschwunden, ohne sich blicken zu lassen. Das war sonst nicht ihre Art. Irgendwas musste mit ihr los sein.
    »Probier’s einfach noch mal. Es wäre gut, wenn wir definitiv wüssten, ob es diese Frau gibt oder nicht.«
    »Okay«, sagte Thomas, nur um das Gespräch rasch zu beenden. Sie wechselten noch ein paar belanglose Sätze, bis er endlich auflegen konnte.
    In Elkes Zimmer war es dunkel. Sie lag auf ihrem Sofa, das Gesicht in den Kissen vergraben. »Lass mich«, sagte sie nur, als sie ihn kommen hörte.
    Er machte die Tür wieder zu und stand dumm im Flur herum. Mehr um irgendwas zu tun als aus einem wirklich dringenden Bedürfnis ging er auf die Toilette. Als er den Deckel der Kloschüssel hob, schwamm eine kleine gläserne Ampulle im Abfluss.
    Ein heißes Gefühl von Schreck schoss in ihm hoch und trocknete ihm den Mund aus. Einen Augenblick lang fühlte er sich versucht, einfach draufzupinkeln und alles einfach wegzuspülen, so zu tun, als hätte er dieses glitzernde kleine Ding überhaupt nie gesehen, aber dann nahm er doch ein Stück Klopapier und fischte es heraus.
    Er spülte es im Handwaschbecken ab und betrachtete es aus der Nähe. Eine Ampulle, halb so groß wie sein Daumen, die mit einer wasserklaren Flüssigkeit gefüllt war. Keine Beschriftung, kein Aufkleber. Die kleine Luftblase darin musste ihr wohl genug Auftrieb gegeben haben, dass sie sich der altersschwachen Klospülung hatte widersetzen können. Er trocknete sie ab, ging in Elkes Zimmer, schaltete das Licht ein, setzte sich neben ihrem Sofa auf den Boden, hielt ihr die Ampulle hin und fragte: »Was ist das?«
    Elke Gombert, Altenpflegeschülerin im dritten Lehrjahr, setzte sich mit verheulten Augen auf. »Ein blutverdünnendes Mittel«, schniefte sie.
    »Und was tut das in unserem Klo?«
    »Ich dachte, ich hätt’s weggespült.«
    Er betrachtete die Ampulle selber noch einmal. Ein blutverdünnendes Mittel? Sie sah mit einem Mal schon nicht mehr so unheimlich aus. »Ich versteh gerade kein Wort«, sagte er.
    Sie sah ihn an mit Entsetzen in den Augen. »Sie schmeißen mich bestimmt raus, wenn sie dahinterkommen!«
    »Hinter was?«
    »Oh Thomas, ich hab ihn umgebracht! Ich hab ihn auf dem Gewissen!«, schluchzte sie und schlang ihre Arme um sich, als müsse sie sich selber umarmen, weil es sonst keiner tat. Also tat Thomas es. Er nahm sie in die Arme, drückte sie an sich und hielt sie, bis ihr Schluchzen, das sie erschütterte wie ein Erdbeben, endlich nachließ.
    »An meinem letzten Tag vor Weihnachten«, berichtete sie dann stockend, während sie sich die Tränen mit dem Taschentuch abwischte, das er ihr geholt hatte, »habe ich vergessen, das Mittel einem alten Mann zu spritzen, für den ich zuständig war. Und in der Nacht darauf ist er gestorben, an Herzversagen. Ich hab’s heute erfahren. Heute ist er beerdigt worden. Und in meinem Kittel war immer noch seine Ampulle!«
    Thomas wusste nicht, was er sagen sollte. Er griff nach ihrer Hand. Plötzlich kam er sich wie ein Drückeberger vor mit seiner Bildermalerei, angesichts der Verantwortung, die andere zu tragen hatten.
    »Ich meine«, fuhr seine Freundin schniefend fort, »natürlich war er alt und krank und musste irgendwann sterben. Klar. Aber ich mache mir Vorwürfe, weißt du?«
    »Ja. Klar. Täte ich auch.«
    Sie biss sich auf die Lippen, starrte an die Zimmerdecke, setzte mehrmals an zu sprechen. »Das Schlimmste ist«, meinte sie schließlich, »dass ich niemandem die Wahrheit

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