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Kelwitts Stern

Kelwitts Stern

Titel: Kelwitts Stern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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sogar jeden Gedanken daran vermieden hatte in der Hoffnung, wieder gesund zu werden. An alles erinnerte sie sich, aber nicht an seinen Namen.
    Und nicht an sein Gesicht.
    Sie packte die Bücher zurück in den Karton, mit hypnotisch langsamen Bewegungen, und öffnete den anderen. Was hatte das zu bedeuten? Damals waren seitenlange Artikel in Zeitungen und Zeitschriften erschienen, alle Fernsehkanäle hatten ausführlich, hektisch und reißerisch über die Ereignisse am Berg berichtet, Tagesgespräch waren sie gewesen. Und nun konnte sie sich nicht mehr an diesen Namen erinnern. Seltsam.
    Im zweiten Karton waren, abgegriffen und zerlesen, die Bücher, die sie auf diesen Weg gebracht hatten. Als junges Mädchen hatte sie die gelesen, verschlungen, auswendig gelernt; Bücher, in denen Wissenschaftler von den »Grenzen des Wachstums«, sprachen, vor Überbevölkerung und Umweltvergiftung warnten, in scharfen Worten und mit Zahlen, Fakten, Schaubildern den Raubbau an der Natur geißelten. Es war wie eine Rückkehr in die Kindheit, diese Seiten wieder zu durchblättern und den Schmerz wieder zu fühlen, den sie damals empfunden hatte: zu spät geboren zu sein, um noch ein wirkliches Leben leben zu dürfen.
    Es tat gut, die Tränen heiß über die Wangen laufen zu spüren.
    Sie blätterte die Seiten um, voller Markierungen und Notizen, eselsohrig, vergilbt, und las immer wieder Sätze, die begannen mit: Wenn nichts geschieht, dann wird … Vor dreißig Jahren waren diese Sätze geschrieben worden. Heute, am Ende des Jahres 1999, konnte man fast jeden dieser Sätze abändern zu: Es ist nichts geschehen, und darum ist … und erhielt eine wahre Aussage. Man hatte es gewusst, und nichts war geschehen.
    »Bin ich denn krank, wenn ich Angst habe?« Später wusste sie nicht mehr, ob sie diesen Satz gesagt oder nur gedacht hatte, jedenfalls war er plötzlich da gewesen, und sie hatte innegehalten, verblüfft auf das Blumenmuster der Bettdecke gestarrt und nicht gewusst, ob sie lachen oder weinen sollte.
    Wer ist denn verrückt? Derjenige, der in einem brennenden Haus laut schreit, um die anderen zu warnen, und nach einem Ausgang sucht – oder derjenige, der tut, als ob nichts wäre?
    Sie hatte die Angst loswerden wollen. So sein wollen wie alle anderen. Der einzige Weg schien zu sein, das zu leugnen, was ihr Angst machte. Niemand hatte ihr je gezeigt, dass der einzige Weg, Angst zu überwinden, der ist, ihr entgegenzutreten und ins Auge zu sehen.
    Sie packte die Bücher ein, stellte die Kartons zurück in den Schrank und wusste, dass sie sie nicht mehr brauchen würde.
    Sie war traurig, als sie aus dem Schlafzimmer kam – draußen war es schon hell, aus Thilos Zimmer hörte man Musik –, aber sie war wieder eine gesunde Frau.
    Als er an diesem Morgen zurück in sein Arbeitszimmer kam, stank es nach kaltem Zigarettenrauch, und der Computer lief immer noch. Lothar Schiefer blieb vor dem Schreibtisch stehen, starrte die Zahlen in der Tabellenkalkulation an, die er aus den Büchern und Ordnern zusammengetragen hatte, die überall in wüsten Haufen herumlagen, und fühlte sich wie ausgekotzt. Wieso war das Scheißding überhaupt noch an? Ach ja, richtig – er war aufs Klo gegangen und im Tran dann irgendwie ins Bad und ins Schlafzimmer geraten und ganz automatisch ins Bett gegangen. Irgendwann um halb vier Uhr nachts oder so.
    Er fuhr sich durchs Haar und betrachtete dann irritiert seine Hand. Ihm war, als könne er immer noch den Händedruck des Außerirdischen spüren, dieses Gefühl, als umfasse man einen Haufen kalter, nasser Makkaroni.
    Der Aschenbecher quoll über. Er leerte ihn in den Papierkorb und ließ sich auf den Schreibtischsessel fallen. Aussichtslos. Er war wie high von den Matteks heimgefahren:
    Außerirdische würden landen, und er war der einzige Börsianer, der davon wusste! Im Auto war ihm das vorgekommen wie eine Lizenz zum Gelddrucken. Aber dann hatte er angefangen zu arbeiten, die Hausaufgaben zu machen, wie er das nannte, hatte versucht, die Inspiration in Zahlen zu fassen, in Geld umzurechnen, und aus dem High war rasch ein Low geworden.
    Seinen ganzen analytischen Werkzeugkasten hatte er; sinnbildlich gesprochen, vor sich ausgeschüttet und alles versucht, aber wie er es auch anpackte: Es war unmöglich vorherzusagen, was geschehen würde, wenn es zu einem Kontakt mit Außerirdischen kam. Und folglich war es auch nicht möglich zu bestimmen, auf welche Weise er aus diesem Ereignis Profit schlagen

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