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Kelwitts Stern

Kelwitts Stern

Titel: Kelwitts Stern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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erzählen kann, warum ich es vergessen habe.«
    Thomas Thieme sah sie an und hatte plötzlich das Gefühl, den Boden zittern zu spüren, weil sich etwas Großes, Unheimliches näherte. Ein Tyrannosaurus vielleicht. Oder ein Wendepunkt in ihrem Leben.
    »Er hatte Besuch an dem Abend«, erzählte Elke mit entrückter Stimme. »Ein Junge, der ihn öfters besuchte. Thilo Mattek. Und ein Mädchen. Seine Schwester, glaube ich. Und außerdem …«
    Sie sah ihn an, forschend, als müsse sie erst das Vertrauen fassen, dass er ihr glauben würde.

21
    Fünf Uhr morgens. Wolfgang Mattek hatte dunkle Schatten unter den Augen, als er in seinen Mantel schlüpfte. Er war erst kurz vor ein Uhr nachts aus der Firma nach Hause gekommen, um ein paar Stunden unruhigen Schlafes zu haben.
    »Ich rede mit ihm«, versprach er seiner Frau. »Ich glaube nicht, dass wir uns Sorgen machen müssen. Um die Weihnachtszeit ist Lothar einfach immer etwas seltsam.«
    Nora wickelte sich fester in ihren Morgenmantel. »Kannst du nicht versuchen, heute früher heimzukommen?«
    »Ich kann dir nichts versprechen. Rechne lieber nicht damit. Heute wird es noch mal mörderisch.«
    Sie nickte bedrückt. »Verstehe.«
    »Heute noch, und morgen bis Ladenschluss. Dann ist Ruhe.« Er gab ihr einen Kuss. »Für den Rest des Jahrtausends.«
    Später saß Nora im Schlafzimmer auf ihrem Bett und starrte die Schrankwand an. Sie war müde, entsetzlich müde, hätte sich hinlegen und den ganzen Tag verschlafen wollen, aber gleichzeitig rumorten Ängste in ihr wie tausend kleine Teufelchen, außer Rand und Band. Sie würde keine Luft kriegen, wenn sie sich jetzt hinlegte. Einfach ersticken.
    Also blieb sie sitzen, wickelte den Morgenmantel wieder und wieder um sich, fester und fester, sah auf die Schranktüren und dachte an das, was dahinter war. In den Kartons, von denen Wolfgang nichts wusste, nichts wissen durfte.
    Sie hatte sich geschworen, sie nie wieder anzurühren. Sie wegzuwerfen hatte sie nicht über sich gebracht, hatte es Wolfgang gegenüber nur behauptet, aber es waren andere Kartons gewesen, die im Schlund des Sperrmüllwagens verschwunden waren. Doch sie hatte sich geschworen …
    Damals hatte sie verstanden. Gewusst. Keine Angst mehr gehabt.
    Nur einen Blick. Mehr nicht. Einen Blick und wieder wegpacken.
    Sie legte die Hand auf ihre Brust, die schwer atmend auf und ab ging.
    Einen einzigen Blick. Versprochen.
    Sie schloss die Schlafzimmertür von innen ab, leise. Öffnete die Schranktür, nahm den Schminkkoffer aus dem obersten Regal und den Schmuckkoffer, den sie ohnehin nie benutzte. Nur ein bisschen blättern in den alten Büchern. Dort waren sie, in zwei von den festen grauen Kartons verpackt, in denen die Hemden kamen, die Wolfgang sich immer schicken ließ. All die Jahre hatten sie gewartet und gewartet, unter einer alten Tischdecke und altem Vorhangstoff versteckt. Gewartet darauf, dass ein dunkler Morgen wie dieser kommen würde.
    Aus dem kurzen Blick wurde ein langer Lesemorgen.
    Die Prophezeiungen des Nostradamus, die einen großen Krieg um die Jahrtausendwende vorhersagten, zumindest nach Meinung der Autoren, die ihre Deutungen im Schatten der atomaren Hochrüstung geschrieben hatten. Zukunftsvisionen indianischer Schamanen, die schon vor Jahrhunderten gewarnt hatten: Zuerst werden die Bäume sterben, und dann werden die Menschen sterben. Apokalyptische Gesichte schlichter Waldbauern, die sahen, wie ein Volk wider das andere zieht, ein Krieg dem anderen folgt, und große Erdbeben, Missernten, Hungersnot und Pestilenz kommen. Astrologische Analysen, die Klimaveränderungen, Epidemien, Unwetterkatastrophen, politische Morde und Umstürze, sogar Polsprünge und Verschiebungen der Planetenbahnen erwarteten.
    Er hatte all dies auch gepredigt. Er hatte den Untergang nahen gespürt und nach Auswegen, nach Rettung gesucht.
    Nora stellte erschrocken fest, dass sie seinen Namen vergessen hatte.
    Wie war das möglich? Sie hielt inne, starrte ins Leere und versuchte, sich zu erinnern. Als sie auf den Berg gegangen waren. Die tagelangen Gebete, das Fasten, um den Geist zu klären, das verzweifelte Ringen um Rettung. Und wie er sie schließlich um sich geschart hatte, damit sie ihm halfen, sich als Opfer darzubringen. »Wenn es eine Rettung gibt, dann die, dass alle Menschen sehend werden.« Das waren seine letzten Worte gewesen, vor dem Schweigen, dem Ritual, dem Ende.
    An all das erinnerte sie sich, mühsam, weil sie jahrelang nicht daran gedacht hatte,

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