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Kelwitts Stern

Kelwitts Stern

Titel: Kelwitts Stern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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der Rektor erbarmungslos hinzu, »sie hat offenbar sogar versucht, Mitglieder des Lehrerkollegiums zu verführen.« So wie er das sagte, klang es, als sei das das Verwerflichste, was sie hatte tun können. »Herr Mattek, bitte haben Sie Verständnis für meine Situation. Wir können dieses Verhalten nicht länger hinnehmen. Sabrina muss unsere Schule verlassen. So schnell wie möglich. Heute noch. Gleich nachher.«
    Mattek räusperte sich. Letzte Woche hatte er den Leiter des Rechnungswesens zu sich ins Büro zitiert und ihn genauso rabiat abgebürstet. Nun konnte er zumindest nachvollziehen, wie sich der Mann gefühlt haben musste. »Man hat mir gesagt, diese Schule sei spezialisiert auf schwierige Fälle. Man hat die exorbitanten Schulgebühren« – es konnte nicht schaden, darauf herumzureiten -»damit begründet, dass Sie hier Psychologen, Sozialpädagogen, Therapeuten und so weiter beschäftigen. Man hat mir versichert, hier an der richtigen Adresse zu sein.«
    Die Miene des Rektors wurde undurchdringlich. »Ich verstehe sehr gut, dass Ihnen meine Entscheidung nicht gefällt. Aber ich muss darauf bestehen, dass Sie Ihre Tochter heute noch mitnehmen.«
    »Und was soll ich dann mit ihr machen? Ich bin Unternehmer. Ich leite eine Fabrik, die Feuerwerkskörper herstellt, und das Silvesterfest 1999 steht vor der Tür. Können Sie sich vorstellen, was das bedeutet?«
    »Ich verstehe Ihren Ärger, Herr Mattek«, meinte der Schulleiter, »aber es ist das Beste, wenn Sabrina geht, glauben Sie mir.« Damit beugte er sich vor und drückte einen kleinen roten Knopf an dem Lokomotivschuppen.
    Etwas begann zu summen. Die Türen des Lokomotivschuppens klappten auf. Mit ungläubigem Staunen beobachtete Mattek, wie eine kleine Dampflokomotive unter reichlich elektronisch klingendem Keuchen herausgefahren kam, einen kleinen Kohletender und zwei Schüttgutwaggons hinter sich herziehend. Das kleine Gespann fuhr bis zur Mitte des Schreibtischs, hielt dann an, und die Abdeckungen der Waggons öffneten sich.
    Sie waren gefüllt mit Süßigkeiten – Lakritz, Zuckerperlen, kleinen Bonbons.
    »Nehmen Sie etwas Konfekt, Herr Mattek«, meinte der Rektor mit einer einladenden Handbewegung. »Das beruhigt die Nerven.«
    Wolfgang Mattek starrte den Mann mit dem grauen Spitzbart an, dann die beiden Waggons, das bunte Zuckerzeug darin, dann wieder den Mann, und konnte die ganze Zeit nur mühsam verhindern, dass ihm der Kinnladen herunterklappte. War da nicht ein irres Glitzern hinter der Nickelbrille?
    »Ich spreche aus Erfahrung, Herr Mattek.«
    Wahrscheinlich war es tatsächlich das Beste, wenn er Sabrina von hier fortbrachte. Je schneller, desto besser. Heute noch. Gleich nachher.
    Sabrina betrachtete ihr Abbild in der spiegelnden Scheibe. Der Busen würde wohl tatsächlich nicht mehr größer werden. Nicht mehr mit siebzehn. Aber eigentlich konnte sie zufrieden sein; die Mädchen mit den großen Oberweiten würden mit dreißig Hängebrüste haben, und sie würde dann immer noch ohne BH herumlaufen können. Doch, das ging okay.
    Die Sache mit ihrem Haar war da schon problematischer. Jetzt sahen die weißen Strähnen in dem Blond noch ziemlich cool aus. Andere Mädchen mussten für so was zum Friseur und viel Geld dafür hinblättern. Und wo gab es in dieser öden Gegend hier einen Friseur, der Strähnchen machen konnte? Nirgends, eben. Aber wenn sie erst mal älter war, würden die weißen Haare sie älter aussehen lassen, als sie war. Sie würde irgendwann anfangen müssen, ihr Haar zu färben.
    Sie warf einen flüchtigen Blick auf die dunkle Eichentür auf der anderen Seite des Ganges, hinter der ihr Vater und der Rektor zusammensaßen. Sie konnte sich vorstellen, was das Ergebnis sein würde. Vorsichtshalber hatte sie schon mal gepackt.
    Sie sah wieder aus dem Fenster.
    Für einen Moment fiel ihr ein breiter Kondensstreifen auf, der ungewöhnlich rasch über das winterkalte Graublau des Himmels zog. Aber sie dachte sich nichts dabei.
    Es gab noch jemanden, dem der breite Kondensstreifen am Himmel auffiel, und der dachte sich etwas dabei. Genug jedenfalls, um sein Auto an den Straßenrand zu fahren, auszusteigen und dem pfeilgerade dahinziehenden Strich nachzuschauen.
    Der Name des Mannes war Hermann Hase, und wie der Zufall es so wollte, war er Geheimagent. Oder, wie es im Behördenjargon heißt, Außendienstbeamter des Bundesnachrichtendienstes. Zumindest war er das im Moment noch. Sein Vorgesetzter hatte ihm unlängst zu verstehen

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