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Kelwitts Stern

Kelwitts Stern

Titel: Kelwitts Stern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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schließlich ein paar Meter zurück, bis fast ans Scheunentor, von wo aus sie gemeinsam zusahen, wie das eigenartige kleine Wesen vollends aus seinem Versteck stieg.
    Der erste Eindruck war: ein Delphin auf zwei Beinen. Ein süßer kleiner Delphin auf zwei Beinen, wie die Frau des Brunnenwirts fand, die am liebsten vorwärtsgestürzt wäre, um diese feucht glänzende, seidige dunkelgraue Haut zu liebkosen, das Heu abzuzupfen, das daran klebte, und das magere Wesen dann an die Brust zu drücken. So klein war es gar nicht, maß wohl etwas mehr als anderthalb Meter. Man brachte es nicht fertig, es für ein Tier zu halten, dazu bewegte es sich zu überlegt, zu vorsichtig, zu – menschlich. Der Kopf, der ohne erkennbaren Hals auf dem Rumpf saß, lief spitz zu wie der eines Delphins. Große dunkle Augen schauten wachsam umher, neugierig, vorsichtig; Augen, die ganz schwarz waren wie riesige Pupillen. Und es schien ein Kleidungsstück zu tragen, eine Art eng anliegenden Anzug von fast der gleichen Farbe wie die Haut und auf den ersten Blick kaum von dieser zu unterscheiden. Das einzig Auffällige war eine silbern schimmernde Metallspange, die auf der rechten Schulter des Wesens saß wie festgeklemmt.
    Als es, mit behutsamen, geschmeidigen Bewegungen, ganz über die Heuballen herabgeklettert war und auf festem Boden stand, hob es die Hände, und nun gruselte auch der Brunnenwirtin, denn die sahen wirklich fremdartig aus. Vier Finger hatte jede Hand, oder besser gesagt, drei Finger und einen, der ihnen gegenüberstand wie ein Daumen an einer menschlichen Hand, aber diese Finger bewegten sich wie sich ringelnde Würmer, umschlangen einander wie die dicken Haare auf einem Medusenhaupt.
    »Also«, grummelte der Birnbauer Anton, »so was hab ich meiner Lebtag noch nicht gesehen.«
    Als wäre das das Stichwort gewesen, begann sein Hund plötzlich, sich wie toll zu gebärden – sprang einen Satz auf das schmale graue Wesen zu, sprang zwei Sätze zurück, heulte auf, warf sich zu Boden, wand sich, als müsse er sich in den eigenen Hintern beißen oder sterben, kurz, drehte völlig durch. »Bundeskanzler!«, rief der alte Mann und klopfte sich mit der flachen Hand auf die speckige Hose. »Da komm her! Bei Fuß! Sitz, Bundeskanzler!« Aber nichts half.
    Dann, im nächsten Moment, war es vorüber. Bundeskanzler hielt inne, sah hoch, äugte in Richtung des Fremden und stob dann auf und davon, geradewegs durch das offene Scheunentor.
    »Ja, was …!?«, rief der Birnbauer Anton und stapfte hinterher, so schnell seine alten O-Beine dies zuließen. Und hielt inne, als er das Auto sah, das auf dem Feldweg vor der Scheuer stand und das vorher noch nicht da gestanden hatte. Ein dicklicher Mann stieg gerade aus diesem Wagen aus. Er trug eine Lederjacke mit pelzbesetztem Kragen, die ihn aussehen ließ wie einen betagten Elvis Presley mit fortgeschrittener Halbglatze, ein Eindruck, der durch die breitbeinige Art und Weise, wie er quer über die Wiese auf die Scheune zugewalzt kam, noch verstärkt wurde.
    Die drei sahen ihn ein Lederetui zücken mit einem Ausweis darin. Diese Geste kannte man ja aus dem Fernsehen. Im Auftrag der Regierung käme er, sagte der Mann in der Lederjacke, und dann sah er den Delphin auf zwei Beinen und brach mitten im Satz ab.
    »Das da!«, brachte er schließlich heraus. Er hob den Zeigefinger und zeigte auf das ratlos dastehende kleine Wesen. »Was ist das?«
    Der Brunnenwirt fing unbeholfen an zu erklären, und der Birnbauer Anton redete ihm dazwischen, von einem Ding, das durchs Dach geschlagen sei und mitten rein ins Heu, und wie sie es freigebuddelt hätten, aber da winkte der Mann, der im Auftrag der Regierung gekommen war, schon ab.
    »Hören Sie«, sagte er in genau dem gleichen Ton, in dem solche Männer in amerikanischen Fernsehserien so etwas zu sagen pflegten, »ich muss dieses … Lebewesen mitnehmen. Sie drei bewahren über den ganzen Vorfall bitte strengstes Stillschweigen. Es handelt sich um eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit, also zu niemandem ein Wort, verstanden?«
    Sie nickten ehrfürchtig, nur der Brunnenwirt bekam wieder dicke Adern am Hals und fragte aufgebracht: »Und mein Dach? Wer bezahlt mir den Schaden?«
    Der dickliche Mann mit der Halbglatze ignorierte ihn.
    Er stapfte langsam auf das schmächtige Wesen zu, das immer noch dastand und alles, was geschah, aufmerksam beobachtete. Auch als der Mann seine Pranke ausstreckte, flüchtete es nicht. Es schien im Gegenteil zu verstehen,

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