Kennedy-Syndrom - Klausner, U: Kennedy-Syndrom
Lea. Kuragin, Eduard und ich werden das Kind schon schaukeln. Und jetzt beeil dich – sonst sehen wir Vroni so schnell nicht wieder!«
*
Allein mit sich und dem, was vor ihr lag, stürmte Lea die Treppe hinauf, die zu den Geleisen führte, warf einen Blick auf die Uhr und kämpfte gegen die Panik an, die sich in ihrem Inneren breitzumachen begann. Gleich Viertel nach elf!, stellte sie mit banger Miene fest, und somit nur noch eine Dreiviertelstunde Zeit. Und von der Linie 5, auf die sie wartete, keine Spur.
Um sich die Wartezeit zu verkürzen, aber auch, um ihre Angst zu überspielen, öffnete Sydows Frau ihre Handtasche und blätterte ihren Ausweis durch. ›Geburtsort: Neuhardenberg‹. Ein rotes Tuch für so manchen Grenzbeamten, wobei sie im Stillen hoffte, von Kontrollen verschont zu bleiben. Als Tochter eines enteigneten Großgrundbesitzers aus der Mark hatte sie für einen Staat, der sich als demokratische Republik ausgab, in Wahrheit aber eine Diktatur war, bei deren Gründung Stalin die Rolle des Taufpaten übernommen hatte, ohnehin noch nie viel übrig gehabt. Was es bedeutete, in einer solchen Diktatur zu leben, hatte sie am eigenen Leibe erfahren, vor allem, was es hieß, mit einem Standartenführer der SS verheiratet zu sein. Dass sie und Hans-Hinrich bald getrennte Wege gegangen waren, war nur ein schwacher Trost, zumal ihre Tochter, bei Kriegsende neun Jahre alt, sehr darunter zu leiden gehabt hatte.
Doch das war erst der Anfang allen Übels gewesen. Im Frühjahr 1946, während eines Besuches bei ihren Eltern, war sie Zeuge der Enteignung und Vertreibung geworden und hatte miterlebt, wie ihr lebensfroher, heimatverbundener und alles andere als nationalsozialistisch gesonnener Vater binnen Tagen zu einem gebrochenen und von Schwermut und Apathie heimgesuchten Wrack geworden war. Zwei Jahre später, kurz nach der Währungsreform, war er schließlich gestorben, mit dem Ergebnis, dass ihre Mutter offenbar jeglichen Lebensmut verloren und keinen anderen Ausweg mehr gesehen hatte, als ein halbes Jahr danach Selbstmord zu begehen.
Abgesehen von einer Ehe, die nur noch auf dem Papier bestand, war ihre Tochter Veronika somit das Einzige gewesen, wofür es sich für Sie noch zu leben lohnte. Hätte es Tom nicht gegeben, der vor acht Jahren wie aus dem Nichts bei ihr aufgetaucht war, wäre sie vermutlich an ihrem Dasein verzweifelt. So aber hatte sie wieder Freude daran gefunden, war in ihren erlernten Beruf zurückgekehrt und hatte einen Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen. Ein Wermutstropfen der besonderen Art war dann allerdings der Umstand gewesen, dass sich ihre Tochter, Studentin der Kunstgeschichte an der FU Berlin, vor knapp zwei Jahren in einen durch und durch systemtreuen jungen Hauptmann der Volkspolizei aus Ostberlin verliebt hatte. Rein persönlich war ihr der junge Mann nicht unsympathisch gewesen, aber da seine Ergebenheit gegenüber dem System keine Grenzen kannte, hatte es zwischen ihm und Tom immer wieder hitzige Wortgefechte und politische Diskussionen gegeben, die, wie nicht anders zu erwarten, das ohnehin gespannte Verhältnis zwischen den beiden über Gebühr strapaziert hatten. Was Ulbricht und Co. betraf, war mit Tom nicht zu reden, und daran würde sich so schnell nichts ändern.
»Stimmt etwas nicht mit Ihnen, gnädige Frau?« In Gedanken bei ihrem Mann und der Frage, was bei dem Treffen mit Kuragin herauskommen würde, hatte Lea das Eintreffen der S-Bahn, die in Kürze weiterfahren würde, nicht bemerkt. »Benötigen Sie Hilfe?«
»Geht schon, kein Problem.« Lea bedankte sich bei dem distinguierten älteren Herrn, dessen Frage sie wieder wachgerüttelt hatte, stieg ein und tat so, als sei diese Fahrt das Selbstverständlichste auf der Welt. Dass dem nicht so war, wurde ihr klar, als der Zug den Bahnhof verließ und mit quietschenden Rädern auf die Brücke zurollte, welche den Humboldthafen überspannte und den westlichen Teil von Berlin mit dem Osten ihrer Wahlheimat verband. Irgendwo da draußen verlief die Grenze, wo genau, war im Dunkeln nicht zu erkennen. Sehr bald aber, in einer Dreiviertelstunde, würde sich das ändern. Aus den Bemerkungen, die Tom fallen gelassen hatte, konnte man wahrlich keine anderen Schlussfolgerungen ziehen. Das Schlupfloch, durch das im laufenden Jahr Tausende entkommen waren, würde gestopft werden.
Mithilfe von Wachtürmen, Stacheldraht – und, wer weiß, am Ende vielleicht sogar mit Beton.
Lea schluckte, beim Gedanken an
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