Kennedy-Syndrom - Klausner, U: Kennedy-Syndrom
sich die Puzzleteile nach und nach zusammengefügt. Bis auf die Frage, auf wessen Konto der Leichnam in der U-Bahn und die drei Toten auf der Waldbühne gingen, waren eigentlich alle Fragen geklärt.
Eine Frage, die sich im Grunde von selbst beantwortete.
»Bist du’s, Juri?«, meldete sich Sydow, im Bewusstsein, dass ihn jetzt, eine gute Stunde vor Mitternacht, nichts mehr vom Stuhl hauen konnte.
»Ja, Tom«, bekräftigte die Stimme am anderen Ende der Leitung, längst nicht mehr so souverän, wie er sie in Erinnerung hatte. »Ich bin’s, Kuragin. Falls du momentan nichts vorhast, würde ich gerne mit dir plaudern. Wenn möglich, unter vier Augen!«
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Sowjetische Raketenbatterie nördlich von Rangsdorf, knapp zehn Kilometer vom amerikanischen Sektor entfernt | 22.40 h
»Alles klar, Männer?« Skip McClellan, Lieutenant Major a. D. und Agent in Diensten der CIA, sah die rußgeschwärzten Gesichter seiner Männer der Reihe nach an und warf einen Blick auf die Uhr, deren Zeiger unaufhaltsam vorwärtsrückte. Der 34-jährige Veteran aus dem Koreakrieg tat dies ohne erkennbare Regung, genau so, wie man es von einem Mann, der zwei Jahre Gefangenschaft überstanden hatte, erwarten würde. Damals, in einem Camp nahe der chinesischen Grenze, hatten ihn seine Peiniger tagelang gefoltert, mit Salzlauge übergossen und in ein Erdloch gesteckt, in dem es von Ratten nur so wimmelte. Er hatte verschimmeltes Brot, Würmer und Reptilienfleisch gegessen, an dessen Aroma er sich lieber nicht erinnerte. Er war vor lauter Durst halb wahnsinnig geworden und hatte sogar den eigenen Urin getrunken. Er hatte mehrere Wochen in einem verschimmelten Kellerverlies verbracht, in das kein Licht, geschweige denn der Klang menschlicher Stimmen gedrungen war. Aber er hatte es überstanden, wenngleich ihm Gefühlsregungen von da an wie überflüssiger Luxus vorgekommen waren. Genau deswegen war er für das Unternehmen Uranus ausgesucht und mit dessen Leitung betraut worden. McClellan wusste genau, auf was er sich eingelassen hatte, aber da Befehl nun einmal Befehl für ihn war und er sich daran gewöhnt hatte, jede noch so widersinnige Order auszuführen, wirkte er jetzt, gut fünf Stunden vor Beginn des dritten Weltkrieges, wie die Ruhe selbst. »Noch Fragen?«
Die Antwort der sechs Spezialagenten, deren Gesichter ebenfalls keinerlei Regung verriet, bestand aus einem Kopfschütteln. An ihren Kameraden, der unweit des sowjetischen Raketenwerfers vom Typ BM-21 verscharrt worden war, verschwendeten sie keinen Gedanken mehr. Für sie war er nichts weiter als ein Verräter, ein Weichling wie Präsident Kennedy, der im alles entscheidenden Moment kalte Füße bekommen hatte. Was innerhalb der nächsten Stunden passieren würde, stand ihnen deutlich vor Augen, dennoch, oder gerade deswegen, wirkten sie wie ein Abbild ihres Kommandanten, emotionslos, entschlossen, zu allem bereit. Selbst dazu, hier, nur ein paar Kilometer vom amerikanischen Sektor entfernt, ein Inferno auszulösen, das unweigerlich zu einem nuklearen Schlagabtausch führen würde. Ein Kräftemessen, welches die USA für sich entscheiden würden. Koste es, was es wolle.
»Fertigmachen zum Abrücken.« Aus Spaß an der Freude, nicht etwa, weil er seine Männer beeindrucken wollte, zündete sich McClellan eine Zigarre an und paffte den Rauch der Havanna in die kristallklare Luft. Im Verlauf der Nacht, der wichtigsten seines Lebens, war das Thermometer auf 10 Grad gesunken, tief genug, um jedermann klar zu machen, dass der Sommer unwiderruflich zu Ende war. Im übertragenen Sinne traf dies auch auf das Verhältnis zwischen Russen und Amerikanern zu, wenngleich sich McClellan einen Dreck darum scherte, wie die Welt am morgigen Sonntag aussehen würde. Bei den Zielen, auf die die Raketen gerichtet waren, handelte es sich nämlich keineswegs um strategisch wichtige Punkte, sondern in der Hauptsache um zivile Objekte, unter anderem den Funkturm, das Schöneberger Rathaus und das Reichstagsgebäude. Na gut, um den Schein zu wahren, würde der große Bruder auch etwas abbekommen, aber wenn schon, dann würde es sich um eher unbedeutende Zielgebiete wie zum Beispiel Truppenübungsplätze, Fuhrparks oder Depots von geringem strategischen Wert handeln. Nur so würde es gelingen, die Weltöffentlichkeit auf die Seite der USA zu bringen und amerikanische Verluste nach Möglichkeit zu minimieren. Nur so, und nicht etwa, indem ausschließlich die eigenen Militäreinrichtungen bombardiert
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