Kennedys Hirn
irrte, als suchte sie einen festen Punkt. »Vielleicht benutze ich die falschen Wörter«, sagte sie. »Vielleicht sollte ich lieber von einer Trauer sprechen, die weg war, als von einer Freude, die unerwartet auftauchte.« »Henrik war doch nie niedergeschlagen.« »Vielleicht hat er es dir nicht gezeigt. Du hast es selbst gesagt. Wem gegenüber tritt ein Kind ganz und gar deutlich auf? Seinen Eltern gegenüber nicht. Als ich Henrik in diesem Bus traf, lachte er. Aber der Henrik, den ich dann kennenlernte, war ein tiefernster Mensch. Er war wie ich. Er betrachtete die Welt als ein wachsendes Elend, das sich auf die endgültige Katastrophe zubewegte. Er redete voller Empörung über die Armut. Er versuchte, seinen Zorn zu zeigen, aber es fiel ihm immer leichter, seiner Trauer Ausdruck zu geben. Er war zu weich, glaube ich. Oder ich konnte nie ganz in ihn hineinschauen. Für mich war er ein gescheiterter Idealist. Aber die Wahrheit war vielleicht eine andere. Er plante etwas, er wollte Widerstand leisten. Ich erinnere mich an ein Gespräch, hier an diesem Tisch, er saß da, wo du jetzt sitzt, und er sagte, jeder Mensch müsse >seine eigene Widerstandsbewegung sein. Wir können nie auf die anderen warten. Diese furchtbare Welt verlangt von jedem von uns einen Einsatz. Wenn es brennt, fragt niemand danach, woher das Wasser kommt. Das Feuer muß gelöscht werden.< Ich weiß noch, daß ich dachte, daß er sich salbungsvoll anhören konnte, wie ein Pastor. Vielleicht sind alle Pastoren romantisch? Manchmal hatte ich genug von seinem Ernst, diese Trauer war wie eine Oberfläche, auf die ich einhämmerte. Er war ein Weltverbesserer, der sich selbst am meisten leid tat. Aber es gab noch einen anderen Ernst unter dieser Oberfläche, das kann ich nicht abstreiten. Ein Ernst, eine Trauer, mißlungene Ausdrücke für Zorn. Wenn er versuchte, böse zu werden, glich er vor allem einem ängstlichen kleinen Jungen. Aber all das hatte sich verändert, als er von jener Reise zurückkehrte.«
Nazrin verstummte. Louise sah, daß sie sich anstrengte, sich zu erinnern.
»Ich merkte sogleich, daß etwas geschehen war. Als er aus der Maschine stieg, bewegte er sich langsam, fast zögernd. Er lächelte, als er mich sah. Aber es kam mir so vor, als hätte er gehofft, daß niemand da wäre, um ihn abzuholen. Er war wie immer, er versuchte zu sein wie immer. Aber er war abwesend, er war sogar abwesend, als wir miteinander schliefen.
Ich wußte nicht, ob ich eifersüchtig sein sollte oder nicht. Aber er hätte es erzählt, wenn es eine andere Frau gewesen wäre. Ich fragte ihn, wo er gewesen sei, doch er schüttelte nur den Kopf. Als er seinen Koffer auspackte, sah ich, daß an seinen Schuhsohlen rote Erde klebte. Ich fragte ihn danach, aber er sagte nichts, er wurde ärgerlich. Dann plötzlich war er wieder wie verändert. Nicht mehr so abwesend, er wurde froher, leichter, als hätte er ein paar unsichtbare Gewichte abgeworfen. Ich merkte, daß er manchmal müde war, wenn ich nachmittags kam, er war nachts wach gewesen, aber ich bekam nie eine Antwort darauf, womit er sich beschäftigte. Er schrieb etwas, es kamen immer neue Mappen in die Wohnung. Die ganze Zeit redete er vom Zorn, der rausgelassen werden mußte, von allem, was vertuscht wurde, allem, was enthüllt werden müßte. Manchmal hörte es sich an, als zitierte er die Bibel, als wäre er im Begriff, sich in eine Art Prophet zu verwandeln. Ich machte einmal einen Scherz darüber. Da wurde er richtig wütend. Es war das einzige Mal, daß ich ihn wirklich böse gesehen habe. Ich glaubte, er würde mich schlagen. Er hob die Hand, sie war zur Faust geballt, er hätte mich geschlagen, wenn ich nicht geschrien hätte. Ich bekam Angst. Er entschuldigte sich, aber ich glaubte ihm nicht.«
Nazrin verstummte wieder. Durch die Küchenwand drangen Geräusche aus der Nachbarwohnung herüber. Louise kannte die Musik, es war das Leitmotiv eines Films, an dessen Titel sie sich nicht erinnerte.
Nazrin hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Louise saß reglos da und wartete. Worauf wartete sie ? Sie wußte es nicht.
Nazrin stand auf.
»Ich muß gehen. Ich kann nicht mehr.«
»Wo kann ich dich erreichen?«
Nazrin schrieb ihre Telefonnummer auf eins der Reklameblätter. Dann drehte sie sich mit dem Mantel in der Hand um und ging. Louise hörte ihre Schritte im Treppenhaus hallen, die Haustür, die zuschlug.
Einige Minuten später verließ sie selbst die Wohnung. Sie ging hinunter zum Slussen,
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