Kennedys Hirn
aufs Geratewohl, und hielt sich dicht an den Hauswänden, aus Furcht, plötzlich von Panik ergriffen zu werden. Am Slussen hielt sie ein Taxi an und fuhr nach Djurgärden hinaus. Der Wind war eingeschlafen, die Luft fühlte sich milder an. Sie streifte zwischen den herbstlichen Bäumen umher und kehrte in Gedanken zurück zu dem, was Nazrin erzählt hatte.
Eher eine Trauer, die aufhörte, als eine Freude, die plötzlich eintrat. Eine Reise, von der er nichts erzählen wollte.
Die Besessenheit? All die Mappen? Sie war überzeugt, daß es die waren, die sie selbst gelesen hatte, über den toten Präsidenten und sein Hirn. Das war es, was Nazrin gesehen hatte. Henriks Interesse für das Hirn des toten Präsidenten war also neu, nichts, was ihn schon lange beschäftigt hatte.
Sie ging zwischen den Bäumen umher und durchstreifte ihre Gedanken. Manchmal wußte sie nicht richtig, ob das Herbstlaub in ihrem Hirn raschelte oder unter ihren Füßen.
Plötzlich fiel ihr der Brief von Aron ein, den sie gefunden hatte. Sie zog ihn aus der Tasche und öffnete ihn. Es war ein kurzer Brief.
»Noch keine Eisberge. Aber ich gebe nicht auf. Aron.«
Sie versuchte zu verstehen. Eisberge? War es ein Kode? Ein Spiel? Sie steckte den Brief wieder ein und ging weiter.
Am späten Nachmittag kehrte sie in Henriks Wohnung zurück. Jemand hatte eine Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen. »Hej, hier ist Ivan. Ich melde mich wieder.« Wer war Ivan? Vielleicht wußte Nazrin es. Sie wollte bei ihr anrufen, überlegte es sich aber anders. Sie ging in Henriks Schlafzimmer und setzte sich auf die Matratze. Ihr war schwindelig, doch sie zwang sich, sitzen zu bleiben.
In einem Regal stand ein Foto von ihnen beiden.
Als er siebzehn war, hatten sie zusammen eine Reise nach Madeira unternommen. In der Woche, die sie auf der Insel verbrachten, hatten sie einen Ausflug zum Tal der Nonnen gemacht und sich vorgenommen, nach zehn Jahren wieder dorthin zurückzukehren. Es sollte das lebenslange Ziel ihrer ganz persönlichen Pilgerreise werden. Plötzlich spürte sie Wut darüber, daß jemand sie um diese Reise gebracht hatte. Der Tod ist so schrecklich lang, dachte sie. So unendlich lang. Wir werden nie mehr nach Correla des fuentes zurückkehren. Niemals.
Sie ließ ihren Blick durchs Zimmer wandern. Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie suchte mit dem Blick. Ein Wandregal mit zwei Reihen Büchern ließ sie innehalten. Zuerst wußte sie nicht, was es war. Dann sah sie, daß einige Buchrücken auf dem unteren Brett herausragten. Henrik war vielleicht nicht ordentlich. Aber er verabscheute Unregelmäßigkeit. Konnte etwas dahinter sein? Sie stand auf und tastete mit einer Hand hinter den Büchern. Da lagen zwei dünne Schreibhefte. Sie zog sie heraus und nahm sie mit in die Küche. Es waren einfache Schreibhefte, Bleistift, Tinte, Tusche, fleckig, vollgeschrieben mit sperrigen Buchstaben. Der Text war in englisch abgefaßt. Auf dem einen Heft stand »Memory Book for my mother Paula«.
Louise blätterte das dünne Heft durch. Es waren ein paar Texte darin, gepreßte Blumen, die getrocknete Haut einer kleinen Eidechse, einige verblichene Fotos, eine farbige Kreidezeichnung eines Kindergesichts. Sie las den Text und verstand, daß er von einer Frau handelte, die bald sterben würde, die Aids hatte und dieses Heft für ihre Kinder schrieb, damit sie eine Erinnerung an sie hatten, wenn sie nicht mehr da war.
»Weint nicht zuviel, weint nur so viel, daß es ausreicht, um die Blumen zu gießen, die ihr auf mein Grab pflanzt. Studiert und nutzt euer Leben. Nutzt eure Zeit.«
Louise sah das Gesicht der schwarzen Frau, das auf einem Foto mit fast ganz verblaßten Farben zu erkennen war. Sie lächelte direkt in die Kamera, direkt in Louises Trauer und Ohnmacht.
Louise las das andere Heft. Miriams Erinnerungsbuch für ihre Tochter Ricki. Hier waren keine Fotos, die Texte waren kurz, die Buchstaben wie krampfhaft ins Papier eingedrückt. Keine gepreßten Blumen, ein paar Seiten leer. Das Buch war nicht fertig geschrieben, es endete mitten in einem Satz: »There are so many things I would...«
Louise versuchte, den Satz zu vollenden. Was Miriam hatte sagen wollen. Oder tun wollen.
Die ich dir sagen möchte, Henrik. Oder tun möchte. Doch du bist verschwunden, du hast dich vor mir versteckt. Vor allem läßt du mich mit einer furchtbaren Qual zurück; ich weiß nicht, warum du verschwunden bist. Ich weiß nicht, wonach du gesucht hast und was dich
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