Kennedys Hirn
getrieben hat zu dem, was geschehen ist. Du warst lebendig, du wolltest nicht sterben. Jetzt bist du doch tot. Ich verstehe es nicht.
Louise betrachtete die Schreibhefte auf dem Küchentisch.
Ich verstehe nicht, warum du diese beiden Erinnerungsbücher an zwei Frauen hast, die an Aids gestorben sind. Und warum du sie hinter den anderen Büchern in deinem Regal versteckt hast.
Langsam breitete sie in ihrem Kopf die Scherben aus. Sie wählte die größten Stücke. Sie hoffte, daß sie als Magneten wirken und andere Scherben anziehen würden, bis die Kontur eines Ganzen sich abzeichnete.
Die rote Erde unter seinen Schuhen. Was waren seine Reiseziele?
Sie hielt den Atem an und versuchte, ein Muster zu erkennen.
kh muß Geduld haben. So wie die Archäologie mich gelehrt hat, daß man alle Erdschichten der Geschichte nur mit Energie und Behutsamkeit durchdringen kann. Aber nie mit Hast.
Spät am Abend verließ Louise die Wohnung. Sie nahm sich in der Stadt ein anderes Hotel. Sie rief Artur an und sagte ihm, daß sie bald zurückkommen werde. Dann suchte sie die Visitenkarte von Göran Vrede heraus und rief ihn zu Hause an. Er hörte sich verschlafen an, als er sich meldete. Sie verabredeten sich für den nächsten Morgen um neun Uhr in seinem Büro.
Sie leerte einige der kleinen Flaschen mit Alkohol aus der Minibar. Dann schlief sie unruhig bis eine Stunde nach Mitternacht. Den Rest der Nacht lag sie wach. Die Scherben waren immer noch stumm.
G öran Vrede holte sie am Eingang des Polizeipräsidiums ab. Er roch nach Tabakqualm, und auf dem Weg zu seinem Büro erzählte er, daß er in seiner Jugend davon geträumt habe, nach Knochen zu suchen. Sie verstand nicht gleich, was er meinte, erst als sie sich an seinen überladenen Schreibtisch gesetzt hatten, erhielt sie die Erklärung. Er war während seines Studiums von der Familie Leakey fasziniert gewesen, die nach fossilen Überresten von Menschen grub, und wenn es auch keine Menschen waren, die sie fanden, so waren es zumindest Hominiden, im Rift Valley, jener tiefen Spalte im östlichen Afrika.
Göran Vrede hob einen Papierstapel vom Schreibtisch und gab einen Sperrkode auf seinem Telefon ein.
»Ich träumte davon. Im Innersten wußte ich, daß ich Polizist werden wollte. Aber ich träumte davon, das fehlende Glied< zu finden. Wann wurde der Affe zum Menschen? Oder vielleicht sollte man lieber sagen: Wann hörte der Mensch auf, Affe zu sein? Ab und zu, wenn ich Zeit habe, versuche ich, mich in all die neuen Forschungsansätze einzulesen, die in den letzten Jahren aufgekommen sind. Aber mir wird immer klarer, daß die einzigen fehlenden Glieder, die ich finden werde, mit meiner Arbeit hier zu tun haben.«
Er verstummte abrupt, als habe er aus Versehen ein Geheimnis preisgegeben. Louise betrachtete ihn mit einem vagen Gefühl von Wehmut. Sie hatte einen Mann mit einem unerfüllten Traum vor sich. Die Welt war voll von Menschen mittleren Alters wie Göran Vrede. Der Traum war zum Schluß nur noch eine schwache Spiegelung dessen, was einmal eine glühende Leidenschaft gewesen war.
Wovon hatte sie selbst geträumt? Eigentlich von nichts. Die Archäologie war ihre erste Leidenschaft gewesen, nachdem der riesenhafte Emil sie losgelassen hatte und sie die hundertneunzig Kilometer nach Östersund gefahren war, um Mensch zu werden. Sie hatte oft gedacht, daß ihr Leben seine Richtung bekommen hatte, als der Schienenbus in Rätansbyn auf halber Strecke zwischen Östersund und Sveg hielt, wo sie auf den nach Süden fahrenden Schienenbus warteten. Neben dem Bahnhof war eine Würstchenbude. Alle schienen sogleich von einem gewaltigen Hunger befallen zu werden, als ihr Schienenbus hielt. Wer als letzter in der Schlange landete, konnte Pech haben und kein Würstchen mehr bekommen, entweder weil sie alle waren oder weil die Fahrt weiterging.
Einmal war sie nicht losgestürzt, um sich in die Würstchenschlange einzureihen. Sie war im Schienenbus sitzen geblieben, und das war der Augenblick, in dem sie beschloß, Archäologin zu werden. Sie hatte gezweifelt, ob sie sich auf die lange Medizinerausbildung einlassen sollte, es war auch verlockend, Kinderärztin zu werden. Aber dort im abendlichen Dunkel hatte sie sich plötzlich entschieden. Der Entschluß war vollkommen klar gewesen, es gab keinen Zweifel mehr. Sie würde ihr Leben der Jagd nach dem Vergangenen widmen. Sie stellte sich vor, daß sie im Feld arbeiten würde, aber vage ahnte sie auch, daß ihre Zukunft ebensogut in
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