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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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klingelte es an der Tür. Sie schrak zusammen. Der Klingelton tat ihr weh. Ihr Herz hämmerte, als sie in den Flur hinausging und öffnete. Aber nicht Henrik stand da, sondern eine zierliche junge Frau mit dunklem Haar und ebenso dunklen Augen, den Mantel hochgeschlossen bis zum Kinn.
    Die junge Frau sah Louise abwartend an. »Ist Henrik zu Hause?«
    Louise begann zu weinen. Die junge Frau zog sich unwillkürlich ein paar Schritte zurück. »Was tun Sie hier?« fragte sie erschrocken. Louise vermochte nicht zu antworten. Sie wandte sich um und ging zurück in die Küche.
    Sie hörte, wie die junge Frau vorsichtig die Wohnungstür schloß. »Was tun Sie hier?« wiederholte sie. »Henrik ist tot.«
    Das Mädchen zuckte zusammen und atmete schwer. Sie verharrte reglos und starrte Louise an. »Wer sind Sie?« fragte Louise.
    »Ich heiße Nazrin, und ich war mit Henrik zusammen. Vielleicht sind wir es immer noch. Auf jeden Fall sind wir befreundet. Er ist der beste Freund, den man sich denken kann.« »Er ist tot.«
    Louise stand auf und zog dem Mädchen, dessen Mantel noch immer bis oben hin zugeknöpft war, einen Stuhl heran.
    Als Louise erzählt hatte, was geschehen war, schüttelte Nazrin langsam den Kopf. »Henrik kann nicht tot sein«, sagte sie.
    »Nein. Ich bin Ihrer Meinung. Er kann nicht tot sein.«
    Louise wartete auf Nazrins Reaktion. Doch sie wartete vergebens, es kam keine. Vorsichtig begann Nazrin, Fragen zu stellen. Sie schien immer noch nicht begriffen zu haben. »War er krank?«
    »Er war nie krank. Er hatte verschiedene Kinderkrankheiten, wie Masern, ohne daß wir es richtig merkten. Als Teenager hatte er eine Zeitlang oft Nasenbluten. Doch das ging vorüber. Er selbst glaubte, es läge daran, daß das Leben zu langsam ging.«
    »Was meinte er damit?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Aber er kann nicht einfach so gestorben sein? So etwas gibt es doch nicht.«
    »So etwas gibt es nicht. Und doch geschieht es. Das, was es nicht gibt, ist das Schlimmste, was passieren kann.«
    Louise spürte plötzlich eine wachsende Wut darüber, daß Nazrin nicht weinte. Es war, als beleidigte sie Henrik damit.
    »Ich möchte, daß Sie gehen«, sagte sie.
    »Warum soll ich gehen?«
    »Sie sind hergekommen, um Henrik zu treffen. Er lebt nicht mehr. Also sollten Sie gehen.«
    »Ich will nicht gehen.«
    »Ich weiß nicht einmal, wer Sie sind. Er hat nie von Ihnen gesprochen.«
    »Er hat mir gesagt, daß er Ihnen nie etwas über mich erzählt hat. Ohne Geheimnisse kann man nicht leben.<«
    »Hat er das gesagt?«
    »Er hat gesagt, Sie hätten es ihm beigebracht.«
    Louises Wut verflog. Sie fühlte sich beschämt. »Ich habe Angst«, sagte sie. »Ich bebe. Ich habe mein einziges Kind verloren. Ich habe mein eigenes Leben verloren. Ich sitze hier und warte darauf, daß ich verwittere.«
    Nazrin stand auf und ging in das andere Zimmer. Louise hörte, wie sie schluchzte. Sie blieb lange fort.
    Als sie zurückkehrte, hatte sie den Mantel aufgeknöpft, und ihre dunklen Augen waren gerötet. »Wir hatten uns verabredet, den großen Spaziergang zu machen. So nannten wir es. Wir gingen am Wasser entlang aus der Stadt hinaus, soweit wir konnten. Auf dem Hinweg sollten wir still sein, auf dem Heimweg konnten wir reden.«
    »Wieso haben Sie keinen Akzent, wenn Sie Nazrin heißen?«
    »Ich bin auf dem Flugplatz Arlanda geboren. Wir hatten zwei volle Tage dort gesessen und darauf gewartet, in eine Flüchtlingsunterkunft eingewiesen zu werden. Meine Mutter brachte mich auf dem Fußboden neben der Paßkontrolle zur Welt. Es ging wahnsinnig schnell. Ich wurde genau da geboren, wo Schweden anfängt. Weder meine Mutter noch mein Vater hatten einen Paß. Aber ich, die dort auf dem Fußboden geboren wurde, bekam sofort die schwedische Staatsbürgerschaft. Es gibt einen alten Paßbeamten, der immer noch dann und wann von sich hören läßt.«
    »Wie sind Sie sich begegnet, Henrik und Sie?«
    »In einem Bus. Wir saßen nebeneinander. Er fing auf einmal an zu lachen und zeigte auf etwas, was jemand mit Tusche an die Wand des Busses geschrieben hatte. Ich fand es überhaupt nicht lustig.«
    »Was stand denn da?«
    »Ich weiß es nicht mehr. Dann kam er bei meiner Arbeit vorbei. Ich bin Zahnarzthelferin. Er hatte sich Watte in den Mund gestopft und behauptete, er hätte Zahnschmerzen.«
    Nazrin hängte ihren Mantel auf. Louise betrachtete ihren Körper und stellte sie sich nackt zusammen mit Henrik vor.
    Sie streckte die Hand über den Tisch und griff

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