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Kennedys Hirn

Kennedys Hirn

Titel: Kennedys Hirn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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der Suche nach Geheimnissen in alten Manuskripten liegen konnte, darin, die von früheren Generationen von Archäologen formulierten Wahrheiten aus heutiger Sicht zu interpretieren.
    Um sie her kauten Menschen Würstchen mit Senf und Ketchup, ein eigentümlicher Frieden senkte sich auf sie herab. Sie wußte.
    Göran Vrede hatte das Zimmer verlassen und kam mit einer Tasse Kaffee zurück. Sie selbst hatte abgelehnt. Sie setzte sich aufrecht hin und hatte das Gefühl, bereit sein zu müssen, ihm Widerstand zu bieten.
    Er sprach mit freundlicher Stimme zu ihr, als stünde sie ihm nahe. »Wir finden nichts, was darauf hindeutet, daß Ihr Sohn umgebracht wurde.«
    »Ich will alles ganz genau wissen.«
    »So weit sind wir selbst noch nicht. Es dauert lange, alles zu klären, was geschehen ist, wenn ein Mensch plötzlich stirbt. Der Tod ist ein komplizierter Prozeß. Wahrscheinlich der komplexeste und am schwersten überschaubare Prozeß, den das Leben uns bietet. Wir wissen bedeutend mehr darüber, wie ein Mensch entsteht, als darüber, wie ein Leben endet.«
    »Ich rede von meinem Sohn! Nicht von einem Embryo oder einem alten Menschen in einem Pflegeheim!«
    Später sollte sie sich fragen, ob ihr Ausbruch für Göran Vrede unerwartet kam. Er mußte sich viele Male in der gleichen Situation befunden, verzweifelten Eltern gegenübergesessen haben, die ihr Kind nicht zurückbekommen konnten, die aber dennoch eine Form von Genugtuung suchten, so sinnlos sie auch sein mochte. Keine schlechten Eltern gewesen zu sein, nicht dem Vorwurf ausgesetzt zu sein, etwas versäumt zu haben.
    Göran Vrede öffnete eine Plastikmappe. »Wir haben keine Antwort«, sagte er. »Wir müßten eine haben. Ich kann nur sagen, daß ich es bedauere. Aufgrund einer Verkettung unglücklicher Umstände sind die Probenergebnisse vernichtet worden, und die Untersuchungen müssen wiederholt werden. Die Ärzte und die Labors arbeiten. Sie sind sorgfältig, sie brauchen ihre Zeit. Aber zuerst suchen wir natürlich danach, ob es eine äußere Einwirkung gegeben hat. Und das ist nicht der Fall.«
    »Henrik war kein Selbstmörder.«
    Göran Vrede sah sie lange an, bevor er antwortete. »Mein Vater hieß Hugo Vrede. Alle hielten ihn für den glücklichsten Menschen auf der Welt. Er lachte ständig, er liebte seine Familie, er stürzte jeden Morgen mit fast wilder Freude zu seiner Arbeit als Typograph bei Dagens Nyheter. Dennoch beging er im Alter von neunundvierzig Jahren plötzlich Selbstmord. Sein erstes Enkelkind war zur Welt gekommen, er wurde für seine Arbeit besser bezahlt. Er hatte gerade einen langen  Streit mit seinen Schwestern beendet und war jetzt alleiniger Besitzer eines Sommerhäuschens auf Utö. Ich war damals elf Jahre alt, immer noch klein. Er kam jeden Abend zu mir und nahm mich in den Arm, bevor ich einschlafen sollte. Eines Dienstagmorgens stand er wie gewöhnlich auf, frühstückte, las die Zeitung, war in seiner gewohnt guten Laune, summte vor sich hin, als er sich die Schnürsenkel band, und küßte meine Mutter auf die Stirn, bevor er ging. Dann fuhr er mit dem Fahrrad davon. Den gleichen Weg wie immer. Aber als er in die Torsgata einbiegen sollte, wich er vom gewohnten Weg ab. Er fuhr nicht zur Arbeit. Er fuhr aus der Stadt hinaus. Irgendwo bei Sollentuna bog er in kleine Straßen ein, die direkt in den Wald führten. Es gab dort einen Schrottplatz, den man angeblich vom Flugzeug aus sehen kann, wenn man sich Ar-landa auf einer bestimmten Anflugbahn nähert. Er stellte das Fahrrad ab und verschwand zwischen dem Schrott. Später fand man ihn auf der Rückbank eines alten Dodge. Er hatte sich dort hingelegt, eine große Dosis Schlaftabletten genommen und war gestorben. Ich war elf Jahre alt. Ich erinnere mich noch an die Beerdigung. Natürlich war der Schock darüber, daß er tot war, groß. Aber das Schlimmste war dennoch der Schmerz, nicht zu verstehen. Die Beerdigung war von diesem großen, rätselhaften, quälenden >Warum< geprägt. Das Kaffeetrinken anschließend war ein einziges Schweigen.«
    Louise fühlte sich herausgefordert. Ihr Sohn hatte nichts mit Göran Vredes Vater zu tun.
    Göran Vrede verstand ihre Reaktion. Er blätterte in der Mappe, die er vor sich hatte, obgleich er wußte, was dort stand.
    »Es gibt keine Erklärung für Henriks Tod. Das einzige, dessen wir sicher sind, ist, daß es keine äußere Gewalt gegeben hat.«
    »Das konnte ich selbst sehen.«
    »Nichts läßt darauf schließen, daß ein anderer Mensch

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