Kennedys Hirn
nicht einen Anlaß gehabt hätte.«
»Welchen zum Beispiel?«
»Seine Mutter zu treffen und ihr zu sagen, daß sie dieses Hotel verlassen sollte. Können wir uns nicht nach draußen setzen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf und ging schnell nach draußen auf die Terrasse.
»Ein sehr guter Mann«, sagte die Serviererin zu Louise. »Er spricht das aus, was andere verschweigen. Aber er lebt gefährlich.«
»Warum?«
»Die Wahrheit ist immer gefährlich. Nuno da Silva hat keine Angst. Er ist sehr mutig.«
Nuno lehnte am Zaun und blickte abwesend aufs Meer hinaus. Sie trat neben ihn. Die Sonne wurde von einer aufgespannten Markise verdeckt, die sich im schwachen Wind bewegte.
»Er kam mit seinen Fragen zu mir. Doch es waren ebensosehr Behauptungen wie Fragen. Ich merkte sofort, daß er eine Spur verfolgte.«
»Was für eine Spur war das?«
Nuno da Silva schüttelte unwillig den Kopf. Er wollte nicht unterbrochen werden. »Unsere erste Begegnung wurde von einer kleineren Katastrophe eingeleitet. Henrik erschien in der Zeitungsredaktion und fragte mich, ob ich sein Vergil sein wolle. Ich hörte kaum, was er sagte, aber Vergil und Dante kannte ich. Ich dachte, er sei ein überdrehter Student, der sich aus einem unerfindlichen Grund wichtig machen wollte. Also antwortete ich ihm entsprechend. Ich sagte ihm, er solle sich zur Hölle scheren und mich nicht stören. Da entschuldigte er sich, er suche keinen Vergil, er sei kein Dante, er wolle nur reden. Ich fragte, warum er ausgerechnet zu mir gekommen sei. Er antwortete, daß Lucinda ihm gesagt habe, er solle Kontakt zu mir aufnehmen. Aber hauptsächlich, weil alle, mit denen er sprach, über kurz oder lang meinen Namen nannten. Ich bin die personifizierte Bestätigung des gegenwärtigen hoffnungslosen Zustands hier. Ich bin nahezu der einzige, der die Dinge in Frage stellt, die Übergriffe der Machthaber, die Korruption. Ich bat ihn zu warten, weil ich zuerst einen Artikel beenden mußte. Er saß auf einem Stuhl, sagte nichts, wartete. Nachher gingen wir hinaus, meine Zeitung ist in einer Garage auf einem Hof untergebracht. Wir saßen auf zwei Benzinfässern, die wir zu zwei unbequemen Bänken zurechtgebogen haben. Es sind gute Sitzplätze, weil es allzu anstrengend wird, lange auszuruhen. Rückenschmerzen bekommt man von Faulheit.«
»Nicht mein Vater. Er war Holzfäller. Sein Rücken ist kaputt, aber bestimmt nicht, weil er faul gewesen ist.«
Nuno da Silva schien ihre Bemerkung gar nicht zu hören. »Er hatte einige Artikel gelesen, die ich über Aids geschrieben habe. Er war überzeugt davon, daß ich recht hatte.«
»Womit?«
»Was die Ursachen der Epidemie angeht. Ich bezweifle nicht, daß tote Schimpansen und Menschen, die Affenfleisch gegessen haben, mit der Krankheit zu tun haben. Aber daß ein
Virus, das so geschickt darin ist, sich zu verbergen, sich selbst zu manipulieren und ständig in neuer Gestalt aufzutauchen, keine Entbindungshilfe gehabt hat, das zu glauben weigere ich mich. Niemand kann mich davon überzeugen, daß dieses Virus seinen Ursprung nicht in einem geheimen Laboratorium von der Sorte hat, wie sie das amerikanische Regime im Irak vergeblich gesucht hat.«
»Gibt es dafür irgendwelche Beweise?«
Nuno da Silvas Ungeduld ging in offene Gereiztheit über. »Für das Selbstverständliche bedarf es nicht immer unmittelbarer Beweise. Früher oder später findet man sie. Noch immer gilt der Satz der alten Kolonialisten. > Afrika wäre das Paradies auf Erden, wenn dort nur nicht all diese verfluchten Afrikaner lebten.< Aids ist ein Instrument, um die Schwarzen auf diesem Kontinent zu töten. Daß ein paar Homosexuelle in den USA und andere, die sich einem normalen freundlichen Sexualleben widmen, dabei mit draufgehen, ist eine Randerscheinung, die kaum ins Gewicht fällt. Diese zynische Auffassung finden Sie bei Menschen, die meinen, das Recht zu haben, die Welt zu beherrschen. Henriks Gedanken gingen in die gleiche Richtung. Aber er fügte einen Satz hinzu, an den ich mich noch wörtlich erinnere: >Die Männer in Afrika sind im Begriff, die Frauen auszurotten.<«
»Wie hat er das gemeint?«
»Die Frauen haben nur sehr geringe Möglichkeiten, sich zu schützen. Die Dominanz der Männer auf diesem Kontinent ist erschreckend. Hier herrschen patriarchalische Traditionen, die ich wirklich nicht verteidigen will. Aber das gibt westlichen Laboratorien wahrhaftig nicht das Recht, uns zu vernichten.«
»Was geschah dann?«
»Wir
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