Kerker und Ketten
ich selten vor dem Verlust meines Kopfes!«
»Was murmelst du da für unverständliches Zeug?«
»Oh, das ist ein Zauberspruch, den ich einmal von einem fremden Zauberer aus dem Abendland gehört habe. Wenn man ihn sagt, gibt er Kraft zum Gelingen.« »Bei Allah, du hast behauptet, meinen Sohn das Schießen lehren zu können. Ich möchte wissen, ob hinter deiner Großsprecherei etwas steckt. Wozu also der Zauberspruch? Willst du versuchen, das Ziel zu treffen und einen ehrenhaften Posten zu bekommen, oder den Kopf verlieren?« Die Taube war nicht viel weiter als hundert Schritt entfernt. Das Licht war noch gut. Michel erinnerte sich der Zeit, da er im Grunewald mit jenem Kunstschützen, seinem Lehrer, im Winde schaukelnde Blätter auf noch weitere Entfernungen getroffen hatte.
»Ich werde versuchen, mir den Ehrenposten zu verdienen, o Sayd«, sagte er. »Willst du mir sagen, wann ich schießen soll?«
»Wann es dir beliebt«, grinste der Herrscher der Gläubigen von Ifrikija.
Michel ließ die Flinte ruhig quer vor sich über dem Sattel liegen. Er wartete, bis die Taube, die auf den Rand des Daches zuhüpfte, stehenblieb und ihm ihr volles Profil darbot. Dann, als das Gewehr hochfuhr, spürte er ein Gefühl im Herzen, das er nicht beschreiben konnte. Es war, als ob etwas an ihm riß. In Bruchteilen von Sekunden zogen die Bilder seines Lebens an ihm vorbei.
Aber er drängte sie mit seinem Willen zurück. Ruhe überkam ihn.
Der Schuß krachte.
Er spürte sofort, daß die Kugel um ein Haar vorbeigegangen wäre. Denn wenn sie voll getroffen hätte, hätte sie den Vogel in Stücke gerissen. So aber flatterte die Taube noch zwei- oder dreimal mit den Flügeln, bevor sie leblos vom Rand des Daches fiel.
Ringsum war es still wie in einer Kirche. Kaum einer wagte zu atmen. Michel dachte nicht daran, das wirkungsvolle Schweigen zu brechen.
»Beim Bart des Propheten!« rief endlich der Bej. »Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist der Gesandte Allahs! Wenn das keine Hexerei war ...« Er schwieg wieder und spuckte auf den Boden.
»Keine Zauberei«, sagte Michel so gelassen wie möglich. Die hellen Schweißperlen standen auf seiner Stirn und straften seine Ruhe Lügen.
»Aber du hast nicht gezielt«, nahm der Bej das Wort. »Ich habe einmal einen Scharfschützen unter meinen Soldaten gehabt. Er hätte das Ziel ein- oder zweimal getroffen bei fünf Schüssen. Aber er hätte mit aufgelegter Flinte lange und sorgsam zielen müssen. Dein Gewehr flog hoch und krachte. Unglaublich!«
»Deines Sohnes Gewehr wird einmal genauso hochfliegen und krachen«, sagte Michel, kühner geworden. »Ich werde ihm meinen Schießstil beibringen.« Der Bej hob die Hand.
»Ich werde mich freuen, dich in meine Dienste zu nehmen. Jedermann hier soll wissen, daß er dich wie einen Effendi zu behandeln hat. La ilaha ila Allahu wa Mohammad rasul almahdi.« Michels Blicke suchten Ojo und fielen dabei auf den im Hintergrund stehenden Polizeimeister. Aisad starrte finsteren Blicks vor sich auf den Boden.
51
Noch im Verlauf der nächsten halben Stunde bekamen Michel und Ojo Zimmer in dem riesigen Palast angewiesen. Die Räume lagen in der Flucht, die von den Hampers 1 bewohnt wurden. Sie waren bequem eingerichtet, boten alles, was das Herz begehrte, waren aber dennoch nicht mit dem sonst üblichen orientalischen Luxus ausgestattet. Der Bej hatte wahrscheinlich die Absicht, seine Leibwachen durch »spartanisches« Wohnen abzuhärten.
Michel nahm ein Bad in dem in den Boden eingelassenen Becken und legte sich dann gleich nieder, um endlich einmal ruhig und tief zu schlafen.
Als bei Sonnenaufgang des Muezzins Stimme vom Minareh der nahen Moschee erklang, fuhr Michel aus dem Schlaf, besann sich einen Augenblick, sprang dann auf und stürmte in Ojos Raum, um den Gefährten wach-zurütteln.
»Adelante«, zischte er. »Aufstehen! Beten!« Ojo war wie immer schwer aus dem Schlaf zu bekommen. Er brauchte eine Weile, bis er erfaßt hatte, was Michel wollte.
Und dann lagen beide mit dem Gesicht gen Osten auf dem Boden und vollführten so stilgerecht wie möglich die Exerzitien, die sie bei den Muslimun tausendmal gesehen hatten.
Ojo, der nie mit besonderem Eifer darauf geachtet hatte, kam mit seinen einzelnen Bewegungen erst immer dann zu Rande, wenn er sich durch einen Seitenblick auf den Pfeifer vergewissert hatte, wie sie ausgeführt werden mußten.
Als das Gebet zu Ende war, flüsterte Michel direkt an Ojos Ohr:
»Du mußt das genau
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