Kerker und Ketten
hier ja nichts!«
»Der Teufel soll euch holen, wenn ihr nicht augenblicklich weitergeht.« Die Folge von dieser Schimpferei war, daß der ganze Zug stehenblieb.
Ein Eimer nach dem anderen wurde vorsichtig auf die Erde gesetzt. Hundert Meter im rechten Winkel zu dem Weg, der nach den Gruben führte, stand ein Steinhaus, das der Wachkompanie als Unterkunft diente. Dort wohnte auch der Sergeant. Diese hundert Meter konnten Michel die Freiheit bringen oder — — den Tod.
Alle Kräfte hatte er sich für diesen Augenblick aufgespart. Niemand hatte ihn bisher pfeifen hören. Das Überraschungsmoment war gesichert.
Als Michel keine Anstalten machte, den Eimer wieder aufzunehmen, und dadurch auch die anderen am Weitergehen hinderte, kamen die Posten und der Korporal dichter heran und drohten:
»Wir hauen euch die Gewehrkolben auf den Kopf, wenn ihr noch länger hier stehen bleibt! Adelante!«
Alles stand auf einem Haufen. Der Korporal hatte eine Reitpeitsche in der Hand. Ihm wurde die Sache jetzt zu dumm. Er holte aus und schlug auf Michel ein. Der stürzte mit einem Wehlaut zu Boden und kam ganz dicht neben dem Eimer zu liegen.»Schwächling!« schrie der Korporal außer sich vor Wut und holte zu einem neuen Schlag aus.
Just in diesem Augenblick schnellte Michel hoch, ergriff den Eimer und goß den Inhalt über den schimpfenden Korporal. Noch ehe die anderen richtig mitbekommen hatten, was sich abspielte, stürzte er auf den nächsten Eimer zu und schwappte ihn gegen die völlig verdutzten Posten. Das wiederholte er solange, bis nur noch ein Eimer übrig war und alle Wächter mit geschlossenen Augen dastanden und schrien und spuckten und sich mit den Handrücken über die Augen fuhren, was die Sache nur noch verschlimmerte.
Michel hatte nun auch den fünften Eimer in der Hand und stürmte damit hinüber in die Unterkunft, wo er sein Gewehr wußte. Bei dem rasenden Lauf beschmutzte er sich natürlich auch selbst, was ihm aber jetzt nichts ausmachte.
Im Nu war er an der Tür. Die Posten standen noch immer völlig fassungslos. Auch die anderen Gefangenen waren sprachlos. Manche von ihnen hatten ebenfalls etwas von dem kräftigen Parfüm mitbekommen.
In dem großen Raum standen die Feldbetten. Sechs Mann schliefen, auch der Sergeant. Die vier übrigen schienen ausgegangen zu sein.
Michel pfiff einige seiner schaurigen Triller. Die Schläfer schreckten auf. Der Sergeant fuhr hoch und sah den Eimer in der Hand des Eindringlings.
»Bist du wahnsinnig, hombre?« schrie er und hielt sich die Nase zu.
Jetzt fuhren die ändern von den Betten auf. Allen stieg der Gestank gleichmäßig in die Nase. Sie rannten zum Bett des Sergeanten und bildeten so einen dichten Haufen. Das war gerade das Richtige.
Michel, immer noch pfeifend, stürmte heran, und goß den wie starr Stehenden auch diesen Eimer ins Gesicht. Ein entsetzliches Geschrei hob an. Aber Michel hatte nur Augen für sein Gewehr, neben dem glücklicherweise auch der Kugelbeutel und das Pulverhorn hingen. Mit fieberhafter Eile machte der Pfeifer die Muskete schußbereit. Er wurde gerade in dem Augenblick damit fertig, als sich der Sergeant von seinem Schrecken erholt hatte und zur Gegenwehr übergehen wollte.
Michel wich zurück, während er den letzten Lauf mit Pulver und Blei füllte. »Zurück, sage ich euch, sonst habt ihr euern letzten Atemzug getan!«
Aber der Sergeant dachte nicht daran, diesem Befehl Folge zu leisten. »Adelante!« schrie er. »Gebt's dem Hund! Schlagt ihn tot! Drauf!« Er stürmte vor.
Da krachte der erste Schuß. Er sank mit einem Schmerzenslaut zusammen und umklammerte seinen linken Unterschenkel.
Jetzt wurden die anderen mutiger. Der Schuß war verschossen. Sie brauchten also vor Schußverletzungen keine Angst mehr zu haben. Und zu fünft würden sie des Rasenden ohne weiteres Herr werden können.
Zweimal krachte das Gewehr in kurzen Abständen. Sie hielten inne. Michel dachte jetzt nur noch an sein eigenes Leben. Er schoß auch die restlichen drei kampfunfähig, ehe sie zu dicht an ihn herankommen konnten.
Wieder spielten seine Finger das in Mußestunden tausendfach geübte und eingedrillte Spiel des Ladens. Das Leben hing von jedem Handgriff ab. Eine Zehntelsekunde Verzögerung konnte den sicheren Tod bedeuten. Wer sich auf seine Waffe verlassen will, der muß sie mit geschlossenen Augen in einem finsteren Zimmer laden, auseinandernehmen und zusammensetzen können.
Michel schaffte es. Er stürzte jetzt ein Bett um und kniete
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