Kerker und Ketten
seiner Lungen. Der Posten blieb stehen und fragte mit mißlaunigem Gesicht: »Que quieres? — Was willst du?«
»Ich will von einem Richter vernommen werden!« sagte Michel mit fester Stimme. »Man kann mich nicht einfach hier einsperren, ohne daß man mich ordentlich verurteilt hat. Nach dem Gesetz hat jeder Verhaftete das Recht, sich gegen die Anklagen zu verteidigen.« »Unsinn! Davon weiß ich nichts. Außerdem haben wir hier in Oran gar keinen Richter. Wer also sollte dich vernehmen?«
»Du scheinst mir ein recht großes Kamel zu sein, wenn du als spanischer Soldat nicht einmal weißt, wer hier der oberste Gerichtsherr ist. Der König natürlich oder — — —« »Ein Trottel bist du, hombre, der König ist in Madrid oder in Sevilla — was weiß ich.« »Du mußt mich aussprechen lassen. Wenn der König nicht selber hier ist, so hat er einen Stellvertreter, einen Gouverneur. Und wenn es keinen Richter gibt, so muß mich der Gouverneur oder dessen Stellvertreter vernehmen. Verstehst du das nicht?«
»No«, antwortete der Spanier grinsend. Ein solcher Vortrag war ihm noch nie gehalten worden. Für ihn war selbst ein kleiner Büttel eine Gestalt aus einer anderen, unerreichbaren Welt.
»He!« schrie Michel wieder, als sich der Posten entfernte, um seine zwanzig Schritte hin und seine zwanzig Schritte her zu gehen. »He, rufe mir deinen Sergeanten! Hast du verstanden? Ich will den Sergeanten oder auch einen Offizier sprechen!«
Der Spanier grinste wieder. Er war sicher, daß er in Michel einen Verrückten vor sich hatte. Er reagierte von jetzt an gar nicht mehr auf das Geschrei des Gefangenen. Die anderen Häftlinge erwachten aus ihrer Lethargie und grinsten ebenfalls. Für sie war der Neue ein Einfaltspinsel, wie man ihn hier selten zu sehen bekam.
Nach zwei Stunden Schreiens und Rufens gab es Michel für den Augenblick auf. Er sah ein, daß er auf diese Weise nie Erfolg haben würde.
Der Sergeant, der Michel verhaftet hatte, hatte ihn längst vergessen. Michels Gewehr hing über seiner Schlafpritsche. Er betrachtete es als persönliche Beute. Zwar wußte er nicht, was er damit anfangen sollte, hoffte aber, daß er es bei seinem nächsten Urlaub in Spanien als Rarität verkaufen konnte. Aber bis dahin hatte es noch gute Weile. Und so verstaubte die Flinte langsam, ohne weiter beachtet zu werden.
34
Acht Tage lang hatte Michel seine lauten Unterhaltungen mit den verschiedenen Posten fortgesetzt. Die Kerle waren von einer vollständigen Sturheit. Sie reagiertenauf nichts. Die meisten von ihnen gaben nicht einmal mehr eine Antwort. Die Mitgefangenen aber drückten sich scheu zur Seite und wollten mit dem offensichtlich Wahnsinnigen nichts zu tun haben. Michel spürte, wie seine Kräfte erlahmten. Als er die Sinnlosigkeit seines Beginnens einsah, verhielt er sich in den kommenden Tagen still. Er hatte zwar noch keinen besseren Plan, war aber dabei, seine Lage bis in alle Einzelheiten zu durchdenken.
Eines Abends teilten ihm die übrigen Häftlinge energisch mit, daß er morgen früh dran sei, sich an der Partie mit den Koteimern zu beteiligen. Er nickte nur; denn was hätte ihm ein Protest geholfen?
Plötzlich starrte er den Mann, der ihm die Kunde überbracht hatte, mit weit aufgerissenen Augen an. Wie ein Geschenk des Himmels war der Einfall gekommen, auf den er so lange voller Verzweiflung gewartet hatte. Mit allen Einzelheiten lag plötzlich der Ausweg zergliedert vor seinem inneren Auge.
Die Nacht ging vorüber. Am Morgen hing der Himmel voller grauer Wolken. Aber es regnete nicht, obwohl es so aussah, als würde es jeden Augenblick anfangen.
Der Korporal kam wie jeden Morgen und brüllte sein unflätiges Kommando durch das Gitter. Die zehn Mann nahmen ihre fünf Eimer auf. Michel tat, als habe er keine rechte Lust, und kam auf diese Weise ans Ende der Gruppe. Draußen standen die zehn Wachen und gähnten. Die Gitter öffneten sich. Der etwa tausend Meter weite Marsch zu den Kotgruben begann. Die Träger gingen vorsichtig, und die Posten hielten sich wegen des Gestanks in respektvoller Entfernung. Als man ungefähr fünfhundert Meter zurückgelegt hatte, sagte Michel zu seinem Gefährten, so laut, daß es die Posten hören mußten: »Halt an. Ich kann nicht mehr. Mir--mir wird übel.«
Der andere, der Angst hatte, daß man etwas verschütten würde, stellte den Eimer ab, als er sah, daß der Rand auf Michels Seite sich neigte.
Die Posten schimpften:
»Weitergehen, ihr Idioten!«
»Verschüttet
Weitere Kostenlose Bücher