Kerrion 3 - Traumwelt
Mitternacht, wenn die Sommernacht noch lange nicht zu Ende war. So plauderte ihn denn das Häuflein dort unten, indem seine einzelnen Mitglieder ihm noch wie groteske Maskenköpfe vor Augen standen, immer weiter hinein in den tiefen Schlaf.
Und je fester er schlief, desto lauter wurde geschwatzt und geschnattert, der Traum gab den Sprechern etwas Entenhaftes. Zunächst war von den Wittekinds die Rede, die sonst auffällig ausgespart wurden. Zwischen den Wittekinds und Souad bestand eine Respektzone. Die Wittekinds taten, als nähmen sie ihn gar nicht richtig wahr - so wie Frau von Klein es unfehlbar gehalten hätte -, aber das rächte sich jetzt. Souad sprach von den Wittekinds mit höhnischem Vergnügen.
»Sie haben auf der Reise ihr Gepäck verloren und saßen tagelang ohne ihre Koffer da«, das rieb er allen Anwesenden regelrecht ein, als liege darin ein Charakterfehler, der sich durch diesen Verlust des Gepäcks nur nach außen hin bestätigte.
»Zufällig ist das nicht passiert«, sagte Frau Mahmouni in jener brennenden Kälte, die sie ihren Einwürfen mitzugeben verstand.
»Nein, das mußte passieren«, sagte Barbara, deren spitze Nase selbst bei diesen Temperaturen etwas grau Verfrorenes hatte.
Hans sah jetzt die Wittekinds durch südliche Straßen gehen, durch staubige Neubauviertel mit zerstörtem Asphalt. Sie waren so frisch und ästhetisch gewandet wie bisher stets, das Frischgewaschene, Frischgebügelte, Frischgestärkte ging von ihnen aus, der heiße Wind blies in Brittas lockiges, schimmerndes Haar, aber während sie voranschritten, in trauriger Langsamkeit, als sei der Verlust des Gepäcks mit einer Ausstoßung aus der menschlichen Gesellschaft verbunden, begannen sie dahinzuwelken. Es war ein Prozeß des Unfrisch-und-schmierig-Werdens, der sonst wohl Tage gedauert hätte, sich jetzt aber während dieser Promenade mit jedem Schritt beschleunigte. Brittas Haar sank zusammen. Beide schwitzten. Brittas Schminke floß davon, ihre Augen waren von zerlaufenen schwarzen Flecken umgeben. Zugleich bildeten sich unter den Armen des Sommerkleides Schweißränder. Wittekinds Anzug war ganz durchweicht, beider Schuhe trugen eine dicke, sandfarbene Staubdecke. Sie wurden älter, während sie da voranzogen, sie hatten klebrige Hände und schwarze Fingernägel. Britta war kaum wiederzuerkennen, oder glich vielmehr ihrem Aussehen auf einem Photo, das sie Hans gezeigt hatte und auf dem der Maskenbildner sie als syphilitische Hure zurechtgeschminkt hatte, für Beckett oder Gorki oder Genet.
War denn die ganze Schönheit der Menschen in ihren Koffern? Was machten denn die Volker Asiens und Afrikas, die über all diese Flaschen und Cremes und über frischgestärkte Wäsche nicht verfügten und dennoch wunderschön aussahen? Das war das Geheimnis der Zivilisation. Der Mensch hatte offenbar allein die Wahl, sich entweder niemals zu waschen oder, wenn er diese Regel auch nur einmal durchbrach, sich von da ab immer und täglich zu waschen.
Es wurde nun deutlich, wie sehr Wittekinds unter ihrem Zustand litten, wie sehr Wittekind sich schämte, unrasiert und mit schmutzigem Hemdkragen und fleckigem Schlips herumzulaufen. Und zugleich begannen sie, einander voll Abscheu zu mustern. Hans war sich in seiner nächtlichen Vision darüber klar, daß bei Träumen der Geruchssinn unbeteiligt blieb. Da kam in der Realität eben noch etwas hinzu. Er sah, daß die beiden in ihrer Not den andern von sich wegwünschten, als sei der Eindruck eines einzigen heruntergekommenen Menschen leichter erträglich als der eines Paares, und so verhält es sich ohne Zweifel auch, die Traumgestalten waren vernünftig. War es vorstellbar, daß sie nach Wiedererlangung der Koffer, nach kühlen Bädern in einem modernen Flughafenhotel, nach Rasur und Besuch beim Friseur dieses Erlebnis, sich gegenseitig abstoßend geworden zu sein, vollständig wieder vergaßen? Oder blieb da etwas zurück, weil dieser Eindruck so schlimm gewesen war, daß er eigentlich niemals hätte entstehen dürfen? Hans dachte an das Paar, wie es sich bisher präsentiert hatte. Waren da schon Anzeichen einer Bruchstelle sichtbar geworden?
»Natürlich«, sagte Ina laut und hart, verschwand aber sofort wieder aus dem Bild. »Es ist die Frage«, sagte Wittekind, jetzt wieder in vertrauter Weise gepflegt und nicht mehr rotund hohläugig, damit auch verjüngt, der zu der Hinterhofgesellschaft hinzugetreten war, als habe ihn das intensive Sprechen über ihn schließlich herbeirufen
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