Kerstin Dirks & Sandra Henke - Vampirloge Condannato - 01
ihm?“
„Ich habe eine wichtige Nachricht für Mister Wellingham.“ Eilig holte ich den Brief unter meinem Mantel hervor. Der Diener grunzte plötzlich, als er den Umschlag sah und winkte mich mit einer ausholenden Armbewegung herein.
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Sandra Henke & Kerstin Dirks Begierde des Blutes
Ich folgte ihm durch die Eingangshalle bis zur Tür am Ende des Flurs. Zaghaft klopfte der Diener an. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Dann hörte ich Schritte. Gott, gleich würde ich ihm gegenüberstehen. Vor Aufregung klopfte mein Herz so wild, dass ich glaubte, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden.
„Was gibt es denn Gregory, wieso störst du mich?“ Jeremy riss die Tür auf. Doch als er mich sah, hielt er in seiner Bewegung inne. Unerwartet bildete sich ein Lächeln auf seinen bisweilen starren Zügen.
„Sophie. Ich habe dich erwartet.“
„Tatsächlich?“ Verwundert sah ich ihn an.
„Schick Lucretia, sie soll meinem Gast Speis und Trank bringen.“ Gregory verbeugte sich grunzend und hinkte den Weg zurück, den wir zuvor gekommen waren.
„Du nimmst meine Einladung doch an?“
„Sicherlich.“
Ich folgte ihm verwirrt in den Raum. Vor dem wandgroßen Fenster, das eine herrliche Aussicht auf Covent Garden bot, stand eine kleine gedeckte Tafel. Täuschten mich meine Augen oder lagen dort tatsächlich zwei geköpfte Hühner auf einer silbernen Platte? Nein, kein Zweifel. Die Tiere waren blutleer. Ihre Körper wirkten merkwürdig eingedellt. Bei dem Anblick krampfte sich mein Magen zusammen. Wenigstens hatten sie ihre Federkleider noch an.
Jeremy wischte sich mit einer bestickten Serviette über die Lippen. „Verzeih, ich habe schon gegessen. Setz dich doch.“
Ich tat wie mir geheißen.
„An deinem entsetzten Gesichtsausdruck sehe ich, dass dir mein Abendmahl weit weniger appetitlich erscheint als mir. Dabei beköstigten mich bereits deine Eltern mit frisch geköpften Hühnern. Was denkst du denn, wie sie mich so lange ernähren konnten?“
„Das wusste ich nicht“, gab ich zu. Mama hatte uns in solchen Augenblicken immer auf unser Zimmer geschickt.
Mein Gastgeber nahm mir gegenüber Platz, stützte die Ellenbogen auf der Tischplatte ab und faltete die Hände unter dem Kinn. Sein kalter Blick war eindringlich. Ich hatte das Gefühl, er würde mir tief in die Seele schauen. „Wieso hast du mich erwartet? Du konntest doch nicht wissen, dass ich dich besuche.“ Ungeduldig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. Meine Finger krallten sich in den Umschlag. Ich brauchte etwas, an dem ich mich festhalten konnte.
„Glaubst du wirklich, ich hätte nicht gemerkt, wie du mich verfolgst?“ Er lachte leise. Doch es war kein böses, vielmehr ein ehrlich amüsiertes Lachen.
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Sandra Henke & Kerstin Dirks Begierde des Blutes
Ich hingegen senkte peinlich berührt den Blick. In der Tat hatte ich mir genau das eingebildet.
„Aber warum hast du dann nichts gesagt?“
„Ich wollte dir die Entscheidung überlassen, Sophie.“
„Welche Entscheidung?“
„Ob wir uns wiedersehen oder nicht. Und ob du glaubst einen Vampir bändigen zu können.“ Ein seltsames Funkeln trat in seine Augen. In diesem Moment öffnete sich die Tür und eine junge Magd kam herein. Sie hatte eine ausgeprägte Stirn, die ihr ohnehin schon kleines Gesicht um noch einiges winziger wirken ließ. Die giftgrünen Augen schienen einen Hauch zu weit auseinander zu stehen und rote Striemen zierten ihre blassen Arme. War sie eine Art lebende Nahrungsquelle für Jeremy? Ritzte sie sich die Haut ein, damit er ihr Blut trinken konnte, ohne dabei zu riskieren, sie in einen Vampir zu verwandeln?
Das Mädchen stellte ein Holzbrett mit Weißbrot vor meine Nase. Dazu etwas Aufschnitt und einen Becher Milch. Ich wusste, ich würde nichts herunterbekommen. Die Aufregung schnürte mir förmlich den Magen zu. „Verzeiht, Herr. Doch etwas anderes hatten wir nicht im Haus.“ Ihre Stimme klang seltsam weich. Es war vielmehr ein Hauchen.
„Ich danke dir, Lucretia. Bitte räume den Tisch ab, bevor du gehst“, sagte Jeremy. Die Magd verbeugte sich, schnappte sich die beiden toten Hühner und eilte nach draußen.
„Du hast äußerst merkwürdige Diener.“
„In der Gesellschaft war kein Platz für sie. Menschen wie Gregory werden auf Jahrmärkten ausgestellt. Und Lucretia wurde von ihrem Ehemann geschlagen, weil sie ihm keinen Sohn schenken konnte.“
Ich schluckte. Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, welch tragische Schicksale sich hinter den irren
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