Kerstin Gier 2
unserem Tisch vorbei und verzichtete darauf, es zu servieren.
»Und überhaupt, du solltest darauf achten, dass er ordentlich isst, anstatt bei Tisch zu spielen!«
»Mama, er ist doch erst anderthalb!« Udos Blick blieb eine Sekunde zu lang an einem großen Tranchiermesser auf dem Servierwagen hängen. Es lag in Griffweite. Ich bedauerte aufrichtig, dass er sich zu beherrschen wusste.
Mir war der Appetit vergangen. Nicht einmal der leckere Nachtisch konnte mich noch locken. Mit einem wehmütigen Blick auf mein halbaufgegessenes Heilbuttfilet verabschiedete ich mich hastig und verschwand auf mein Zimmer.
Dort starrte ich eine halbe Stunde lang auf das Telefon und kämpfte gegen den Impuls an, sofort den Flughafen in Las Palmas anzurufen und einen früheren Rückflug zu buchen. Aber das hätte nach Kapitulation ausgesehen. Mehr noch: Es wäre eine gewesen. Nein, ich würde nicht kneifen. Zu Hause erwartete mich schließlich nichts anderes als hier. Ich würde die Herausforderung annehmen.
Am nächsten Morgen war ich die Erste beim Frühstück. Ich war beizeiten schlafen gegangen und hegte die Hoffnung, dass Udo, Gelischatz und Co. etwas länger brauchen würden, um aus den Federn zu kommen und sich sowie Junior herzurichten.
Meine Rechnung ging auf. Nach einem wirklich ausgezeichneten – weil einsamen – Frühstück schnappte ich meine Badetasche und ging an den Strand.
Ich hatte mich eine wundervolle Stunde lang im heißen Sand geräkelt, dabei in Camilleris neuestem Krimi geschmökert und nebenbei den braungebrannten Animateur begutachtet, der gerade mit einer Gruppe älterer Damen eine Runde Wassergymnastik absolvierte, als ich von einer allzu bekannten Stimme aus meinen Tagträumen gerissen wurde:
»Gelischatz, hier vorn direkt am Meer ist ein wunderschönes Plätzchen!«
Ich hatte mich nicht getäuscht. Meine Lieblingsfeindin in der vertrauten knallbunten Tunika watschelte von der mannshohen Düne herunter, gefolgt von ihrer Tochter mit Klein-Jonas auf dem Arm und Schwiegersohn Udo, der eine gigantische Kühltasche schleppte. Hätte die Addams Family direkt vor meinen Augen am Strand von Maspalomas Platz genommen, mein Entsetzen hätte nicht größer sein können.
»Ist das nicht herrlich, Kinder?«, kreischte die Schwiegermutter begeistert und ließ sich mit ihrem breiten Hintern direkt vor mir in den Sand plumpsen, wobei sie die Sicht auf den attraktiven Animateur weitestgehend versperrte. »Schaut euch nur diese Dünen an! Es soll hier sogar Kamele geben. Wie in Ägypten!«
Ich konnte mir bestens vorstellen, wie sich Udo eine große ägyptische Pyramide mit einer sehr tiefen Grabkammer hierher wünschte. Ich war durchaus bereit, ihn mental dabei zu unterstützen. Gebündelte Konzentration soll schon Materialisationen zustande gebracht haben. (Optimalerweise könnte die Pyramide vom Himmel fallen und dieses unerträgliche Weibsbild unter sich begraben.) Leider reichte unsere Gedankenkraft dazu nicht aus.
Zum Glück hatte ich wenigstens meinen iPod dabei und konnte die Kopfhörer in die Ohren stecken. Aber – oh grausames Schicksal – nach einer halben Stunde war der Akku leer.
Als ich meinen Blick hob, bekam ich mit, wie Udo mit Junior ausgelassen im seichten Wasser planschte, während die Schwiegermutter entsetzt schrie: »Bist du denn von Sinnen, das Meer ist noch viel zu kalt. Er wird sich den Tod holen. Und das ist dann allein eure Schuld!«
Ich entschied, dass das Wasser gar nicht kalt genug sein konnte, um meinen Frust abzukühlen und schwamm so weit hinaus, wie ich konnte.
Am Abend gab es eine Tanzveranstaltung im Hotel. Ich saß in meinem besten Kleid an der Bar, schlürfte einen Campari-Orange auf Eis und hoffte heimlich, den attraktiven Animateur wiederzusehen. Wirklich nur wiederzusehen. Und vielleicht mit ihm zu tanzen. Auch wenn ausschließlich zu Hause gegessen wurde, konnte man sich im Urlaub doch wenigstens Appetit holen, oder?
Udo und Gelischatz wiegten sich eng umschlungen zu den Klängen von Shakiras schönster Ballade und ich war halbherzig mit meinem Schicksal ausgesöhnt.
Ich hörte die schneidende Stimme schon, bevor die dazugehörige Person zur Tür hereinwalzte.
»Geli, Udo, ihr müsst sofort kommen! Der Kleine schreit wie am Spieß. Wahrscheinlich hat er Fieber. Würde mich nicht wundern, wenn er sich eine Lungenentzündung geholt hat, nachdem ihr ihn heute im eiskalten Wasser gebadet habt. Unverantwortlich so was, wirklich!«
Die beiden vom Schicksal so
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