Kerstin Gier 2
dass aufgegessen werden muss, was auf den Tisch kommt, kann sich nicht die Blöße geben, diese eiserne Regel selbst zu brechen. Aber natürlich wusste sie sich auf andere Weise an mir zu rächen.
»Du musst deinen Kindern endlich einmal beibringen, das Besteck richtig zu halten. Daniel, man nimmt die Gabel in die linke Hand, damit man mit dem Messer in der Rechten schneiden kann.« Nachdrücklich stampfte meine Schwiegermutter mit dem Fuß auf. Leise zischend verlosch wieder ein Fünkchen meiner Autonomie unter der Gummisohle ihres Hauspantoffels.
»Warum soll ich die Erbsen denn schneiden?«, fragte mein Fünfjähriger mit der ihm eigenen, unschuldigen Logik.
Doch dieses durchaus nachvollziehbare Argument ließ sie nicht durchgehen. »Man blamiert sich ja, wenn man mit ihm ins Restaurant geht. Vincent konnte, als er fünf war, längst mit Messer und Gabel umgehen, sogar sein Nutellabrot hat er so gegessen.«
Mein Mann bekam rote Ohren. Ob vor Stolz oder Scham ließ sich nicht genau sagen.
»Und überhaupt solltest du das Kind allmählich mal zum Musikunterricht anmelden. Jeremy-Pascal ist genauso alt wie Daniel und spielt schon seit zwei Jahren Klavier. Darauf hat Loretta großen Wert gelegt.«
Loretta war die beste Freundin meiner Schwiegermutter und Jeremy-Pascal – kurz auch Tschäj-Pie genannt – deren Enkelsohn. Loretta erzog das Kind schon seit seinem zweiten Lebensjahr, weil Tschäj-Pies Mutter dem Alkohol verfallen war. Irgendwie konnte ich sie verstehen.
»Außerdem ist Jeremy-Pascal schon aufgeklärt«, blaffte sie mich an. »Wogegen deine Kinder immer noch an den Klapperstorch glauben.«
»Und das soll auch noch einige Zeit so bleiben«, fauchte ich zurück. Das fehlte noch, dass ich zwei Kindergartenkindern die Illusion vom Storchenmärchen nahm.
»Zu spät!« Schwiegermamas Augen funkelten hämisch. »Ich habe das heute erledigt. Daniel, erzähl doch mal dem Papa, wie die kleinen Babys gemacht werden. Vielleicht klappt es ja dann endlich mit einem Brüderchen.«
Ich war sprachlos.
Mein Sohn starrte betreten auf seinen Teller und stocherte im Gemüse. Ihm war das Ganze mindestens genauso peinlich wie mir.
»Nun mach schon, Daniel«, nervte Schwiegermama.
»Das erkläre ich dir lieber ein anderes Mal, Papa«, murmelte mein Sohn und patschte mit der Gabel verlegen seine Erbsen zu Brei. »Wenn ich das beim Essen erzähle, vergeht dir bestimmt der Appetit.«
Ich holte tief Luft, und wollte ganz schnell das Thema wechseln, weil unsere Dreijährige interessiert die Ohren spitzte, aber meine Schwiegermutter kam mir zuvor.
»Hör auf, die Erbsen zu zerquetschen und nimm die Gabel in die linke Hand!«, brüllte sie meinen Sohn an und schlug mit der Hand so fest auf den Tisch, dass die Gläser fast überschwappten. Ihr Gesicht war puterrot, an ihrer Schläfe pulsierte eine Ader, und ich hegte kurze Zeit die Hoffnung, dass sie hier und jetzt ein Schlaganfall ereilen würde. Ein tödlicher, bitte, falls ich einen Wunsch äußern durfte. Halbe Sachen kann ich nicht brauchen. Leider wurde nichts daraus. Unkraut vergeht eben nicht.
Nachdem ich den Tisch abgedeckt hatte, war ich völlig erledigt. Ich sackte auf einen Küchenstuhl und ballte die Hände so fest zusammen, dass die Gelenke knackten.
»Mama, kaufst du mir Flügel?«
Ich hob den Kopf. Vor mir stand meine Dreijährige und zupfte an meinem Rock.
»Wie bitte?« Ich war gedanklich zu tief in meine Mordfantasien abgetaucht, um den Sinn der Frage zu verstehen.
»Ich brauche Flügel.« Sie nickte so energisch, dass ihre Rattenschwänzchen wippten.
»Wozu brauchst du denn Flügel?«
Sarah schaute mich an, als sei ich schwer von Begriff. »Wir wollen mit dem Kindergarten einen Ausflug machen, und wenn ich keine Flügel habe, kann ich doch nicht mit!«
Normalerweise hätte ich meine Tochter für dieses Highlight kindlicher Logik in die Arme gerissen und abgeknutscht, aber heute blieb nur ein einziges Wort in meinem Kopf haften: Ausflug! Noch besser Urlaub. Für mich ganz allein. Ohne Familienstress und vor allen Dingen ohne meine Schwiegermutter. Das war genau das, was ich jetzt nötig hatte. Auch ich brauchte Flügel. Solche wie diese, die mir damals gewachsen waren, als ich mich in Vincent verliebt hatte. In den letzten drei Jahren waren sie verkümmert und kraftlos und schlaff wie ausgediente Luftballons unter den Trägern meiner Küchenschürze verschwunden. Ein Urlaub würde mich neu beflügeln, und anschließend würde der alten
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